I. Fragen

1. Ausgangsfall

In einem Zivilprozess, in dem es um eine Kaufpreisforderung i.H.v. 20.000,00 EUR geht, hat der Kläger drei Zeugen, darunter seine Ehefrau benannt, der Beklagte drei Gegenzeugen. Das Gericht vernimmt im ersten Beweisaufnahmetermin zwei dieser Zeugen, im zweiten Beweisaufnahmetermin drei weitere Zeugen. Im dritten Termin ruft das Gericht die Ehefrau des Klägers in den Zeugenstand, ermahnt diese gem. § 395 Abs. 1 ZPO zur Wahrheit und weist auf die Möglichkeit hin, dass sie unter Umständen ihre Aussagen zu beeidigen hat. Sodann befragt das Gericht die Zeugin zu ihren Vor- und Nachnamen und ihrem Wohnort sowie zum Verhältnis zu den Parteien. Nachdem die Zeugin erklärt hatte, sie sei die Ehefrau des Klägers, belehrt das Gericht sie über ihr Zeugnisverweigerungsrecht nach § 383 Abs. 1 Nr. 2 ZPO. Hieraufhin erklärt die Zeugin, sie mache von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch. Demzufolge wird die Zeugin nicht zur Sache vernommen.

Im Anschluss hieran verhandeln die Parteien streitig. Am Schluss der Sitzung verkündet das Gericht ein der Klage stattgebendes Urteil, in dem es den Beklagten die Kosten des Rechtsstreits auferlegt hat.

Welche Vergütung ist dem Prozessbevollmächtigten des Klägers angefallen? Bestehen Bedenken gegen die Erstattungsfähigkeit?

2.1. Abwandlung

Im Ausgangsfall hat das Prozessgericht in zwei Beweisterminen mehrere Stunden lang sämtliche von den Parteien benannten sechs Zeugen vernommen und ihnen auch jeweils die Aussagen der anderen Zeugen vorgehalten.

Kann der Klägervertreter auch hier die Zusatzgebühr nach Nr. 1010 VV abrechnen?

3.2. Abwandlung

In der 1. Abwandlung vernimmt das Prozessgericht an zwei Terminen die Zeugen. Ferner beraumt der anschließend vom Gericht beauftragte Sachverständige einen Ortstermin an, zu dem die Anwälte der Parteien erschienen sind.

Kann nunmehr die Zusatzgebühr Nr. 1010 VV berechnet werden?

II. Lösungen

1. Lösung zum Ausgangsfall

I. Anwaltsvergütung

Das Einreichen der Klageschrift und die Mitwirkung an den drei Terminen hat die 1,3-Verfahrensgebühr nach Nr. 3100 VV ausgelöst (s. Nr. 3101 Nr. 1 VV). Für die Vertretung in den drei Terminen ist dem Prozessbevollmächtigten des Klägers eine 1,2-Terminsgebühr nach Nr. 3104 VV angefallen (s. Vorbem. 3 Abs. 3 S. 1 VV). Ferner kann der Rechtsanwalt die 0,3-Zusatzgebühr nach Nr. 1010 VV abrechnen. Es haben drei gerichtliche Termine stattgefunden, in denen Zeugen vernommen worden sind. Dies indiziert, dass es sich um eine besonders umfangreiche Beweisaufnahme gehandelt hat.[1] Es ist also im Kostenfestsetzungsverfahren nicht zu prüfen, ob die Beweisaufnahme tatsächlich umfangreich war. Vielmehr fällt die Zusatzgebühr bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen (in drei Terminen werden Zeugen oder Sachverständige vernommen) auch dann an, wenn die entsprechenden Vernehmungen nur sehr kurz und tatsächlich einfach waren.

Auch bei dem letzten Termin hat das Gericht die Ehefrau des Klägers als Zeugin vernommen, und zwar gem. § 395 Abs. 2 ZPO zur Person. Nr. 1010 VV erfordert also nicht, dass der betreffende Zeuge – hier also die Ehefrau des Klägers – auch zur Sache gehört wurde. Folglich handelt es sich auch um eine Vernehmung eines Zeugen i.S.d. Nr. 1010 VV, wenn der Zeuge vom Gericht aufgerufen und gem. § 395 Abs. 2 ZPO zur Person vernommen wird und sodann von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht.[2]

Somit kann der Klägervertreter folgende Gebühren und Auslagen berechnen:

 
 
1. 1,3-Verfahrensgebühr, Nr. 3100 VV 1.068,60 EUR
  (Wert: 20.000,00 EUR)  
2. 1,2-Terminsgebühr, Nr. 3104 VV 986,40 EUR
  (Wert: 20.000,00 EUR)  
3. 0,3-Zusatzgebühr, Nr. 1010 VV 246,60 EUR
  (Wert: 20.000,00 EUR)  
4. Postentgeltpauschale, Nr. 7002 VV 20,00 EUR
5. 19 % Umsatzsteuer, Nr. 7008 VV 441,10 EUR
  Gesamt 2.762,70 EUR
[1] OLG Hamburg AGS 2024, 164 [Hansens], in diesem Heft.
[2] N. Schneider/Thiel, AGS 2013, 53, 54.

II. Kostenerstattung

Die gesetzlichen Gebühren und Auslagen des Prozessbevollmächtigten der obsiegenden Partei gehören gem. § 91 Abs. 2 S. 1 ZPO zu den kraft Gesetzes erstattungsfähigen Kosten. Es gibt hier keinen Anlass, ausnahmsweise die Notwendigkeit einzelner Tätigkeiten des Rechtsanwalts zu prüfen. Dies gilt auch für den Umstand, dass die Ehefrau des Klägers erst in dem Termin zur mündlichen Verhandlung von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht hat. Die Zeugin ist zu dem Verhandlungstermin vom Prozessgericht geladen worden und muss dieser Ladung Folge leisten, um nicht die Verhängung von Ordnungsmitteln zu riskieren. I.Ü. ist auch nicht ersichtlich, dass der Kläger irgendeinen Einfluss auf die Entscheidung seiner Ehefrau, das Zeugnis zu verweigern, genommen hat. Immerhin hatte er seine Ehefrau als Zeugin benannt.

2. Lösung zur 1. Abwandlung

Der Gesetzeswortlaut der Nr. 1010 VV erfordert eindeutig, dass mindestens drei gerichtliche Termine stattgefunden haben, in denen Sachverständige oder Zeugen vernommen worden sind. Diese Mindestanzahl ist hier nicht erfüllt, sodass die Zusatzgebühr nicht angefallen ist.[3] Eine entsprechende Anwendung der Vorschrift scheidet bereits deshalb aus, weil es an einer für eine Analogie erforderliche planwidrigen Gesetzeslüc...

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