§ 15 Abs. 5 S. 2 RVG; Vorbem. 3 Abs. 4 VV RVG
Leitsatz
Liegen zwischen Beendigung der außergerichtlichen Vertretung und dem Auftrag zur Einreichung der Klage mehr als zwei Kalenderjahre, wird die Geschäftsgebühr im Kostenfestsetzungsverfahren nicht angerechnet.
AG Stralsund – Zweigstelle Bergen auf Rügen, Beschl. v. 2.1.2024 – 22 C 109/22
I. Sachverhalt
Die Klägerin hatte ihren späten Prozessbevollmächtigten zunächst außergerichtlich mit der Regulierung eines Schadens beauftragt. Die außergerichtliche Tätigkeit endete am 20.11.2019. Zu diesem Zeitpunkt rechnete der spätere Prozessbevollmächtigte gegenüber der Klägerin eine Geschäftsgebühr nach Nr. 2300 VV nebst Auslagen und Umsatzsteuer ab. Im Dezember 2022 erteilte die Klägerin ihrem Prozessbevollmächtigten den Auftrag, Klage einzureichen und dabei auch die vorgerichtlich entstandene Geschäftsgebühr mit einzuklagen. Die Klage hatte Erfolg. Die Kosten des Rechtsstreits wurden der Beklagten auferlegt. Im anschließenden Kostenfestsetzungsverfahren beantragte die Klägerin die Festsetzung einer 1,3-Verfahrensgebühr, ohne die Anrechnung der Geschäftsgebühr zu berücksichtigen. Hiergegen legte die Beklagte Erinnerung ein. Sie war der Auffassung, die Geschäftsgebühr hätte gem. Vorbem. 3 Abs. 4 VV hälftig auf die Verfahrensgebühr angerechnet werden müssen. Dies sei gem. § 15a Abs. 3, 1. Var. RVG auch in der Kostenfestsetzung zu berücksichtigen. Der Rechtspfleger hat der Erinnerung nicht abgeholfen. Der Richter hat sie zurückgewiesen.
II. Keine Anrechnung nach mehr als zwei Kalenderjahren
Die Anrechnung einer zuvor entstandenen Gebühr hat in § 15 RVG eine einschränkende Regelung erfahren. § 15 Abs. 5 S. 2 RVG lautet:
Zitat
"Ist der frühere Auftrag seit mehr als zwei Kalenderjahren erledigt, gilt die weitere Tätigkeit als neue Angelegenheit und in diesem Gesetz bestimmte Anrechnungen von Gebühren entfallen."
Die Regelung ist vom Wortlaut eindeutig, unmissverständlich und sogleich zweckmäßig. Sie trägt insbesondere dem Umstand Rechnung, dass nach einer längeren Unterbrechung einer Rechtsverfolgung eine erneute Einarbeitung des Bevollmächtigten erforderlich ist. Hier war unstreitig die außergerichtliche Vertretung mit Abrechnung vom 20.11.2019 beendet. Der Auftrag zur Klage erfolgte erst im Dezember 2022, also mehr als zwei Kalenderjahre später.
III. Keine Pflicht zur früheren Klageerhebung
Soweit die Beklagte der Auffassung ist, die Klägerin hätte den Klageauftrag früher erteilen müssen, um Kosten und Gebühren möglichst gering zu halten, greift dies nicht, zumal es die Beklagte selbst war, die durch jahrelange Verschleppung der Regulierung berechtigter Ansprüche diese – aus ihrer Sicht vermeidbaren – Mehrkosten selbst veranlasst hat.
IV. Bedeutung für die Praxis
1. Maßgebend sind zwei Kalenderjahre
Die Entscheidung ist zutreffend. Liegen zwischen der Beendigung einer Angelegenheit und der Beginn einer anderen Angelegenheit, für die eine Gebührenanrechnung vorgesehen ist, mehr als zwei Kalenderjahre, dann ist die Anrechnung ausgeschlossen. Erforderlich sind zwei Kalenderjahre. Zwei Jahre alleine reichen nicht aus. Ein solcher Fall lag hier vor.
2. Vergleichbare Fälle
Vergleichbare Fälle können sich nach einem Mahnverfahren ergeben, wenn nach Widerspruch gegen einen Mahnbescheid die Sache zunächst zwei Jahre nicht betrieben und dann erst die Abgabe an das Streitgericht beantragt wird. In diesem Fall ist die Verfahrensgebühr des Mahnverfahrens auf die Verfahrensgebühr des streitigen Verfahrens nicht anzurechnen (AG Siegburg AGS 2016, 268).
Beispiel
Im November 2021 war gegen den Mahnbescheid Widerspruch eingelegt worden. Im Februar 2024 ist die Durchführung des streitigen Verfahrens beantragt worden.
Weder für den Bevollmächtigten des Antragstellers noch für den des Antragsgegners ist eine Gebührenanrechnung vorzunehmen.
Auch im Falle einer Zurückverweisung kommt ein Anrechnungsausschuss in Betracht (OLG München AGS 2006, 369; OLG Düsseldorf AGS 2009, 212 = RVGreport 2009, 181; OLG Köln OLGR 2009, 601).
Beispiel
Im Oktober 2021 hat das OLG das Berufungsurteil verkündet. Dagegen wurde Revision eingelegt, auf die hin der BGH das Urteil des OLG aufgehoben und die Sache an das OLG zurückverwiesen hat.
Für beide Anwälte scheidet eine Anrechnung nach Vorbem. 3 Abs. 6 VV aus.
Darüber hinaus kann auch im Falle eines vorangegangenen Beweisverfahrens ein Anrechnungsausschuss in Betracht kommen (OLG München AGS 2006, 369 = AnwBl 2006, 588; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 18.2.2010 – I-24 W 2/10; OLG Köln MDR 2009, 1365).
Beispiel
Der spätere Kläger hatte ein Beweisverfahren eingeleitet, das nach Eingang des Gutachtens in 2021 beendet wurde. Im Januar 2024 wird Hauptsacheklage erhoben.
Für beide Anwälte scheidet eine Anrechnung nach Vorbem. 3 Abs. 5 VV aus.
3. Abwarten ist kein missbräuchliches Verhalten
Auch der Einwand, die Klägerin habe sich missbräuchlich verhalten, weil sie früher hätte Klage erheben können, greift nicht. Es ist die freie Entscheidung einer Partei, ob und wann sie Klage erhebt. I.Ü. hätte die Beklagte ja eine negative Feststellungsklage erheben können, um die Rechtslage zu klären. Dann wäre die Geschäftsgebühr anzurechnen gewesen.
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