1. Es ist sicherlich zutreffend, wenn das OLG für die Einarbeitung des Pflichtverteidigers in die Ermittlungsakten eine Pauschgebühr nach § 51 RVG bewilligt. Denn der Aktenumfang mit rund 6.600 Seiten war so groß, dass der zeitliche Aufwand für die Einarbeitung in diese Akte mit den gesetzlichen Gebühren des Pflichtverteidigers nicht abgedeckt ist. Das scheint auch das OLG so zu sehen, obwohl es seine Ansicht ein wenig relativiert, wenn es dann auch noch auf den nicht "unerheblichen Besprechungsbedarf" abstellt.
2. Aber das war es dann auch schon mit "zutreffenden" Erwägungen, denn i.Ü. ist dem OLG zu widersprechen.
a) Soweit das OLG auf den BGH, Beschl. v. 1.6.2015 (4 StR 267/11, NJW 2015, 2437 = AGS 2016, 5) und für die Gewährung einer Pauschgebühr (auch) eine sich in exorbitanter Weise von sonstigen – auch überdurchschnittlichen Sachen – abhebende anwaltliche Mühewaltung verlangt: Geschenkt. Ich habe bereits so oft darauf hingewiesen, dass diese Auffassung des BGH "exorbitant" falsch ist, dass man das nicht noch einmal wiederholen muss. Die OLG beten den BGH nach und folgen ihm an der Stelle blind.
b) Falsch ist es m.E. auch, wenn das OLG der Bemessung der Pauschgebühr nur die Verfahrensgebühr Nrn. 4104, 4105 VV zugrunde legt. Denn dabei übersieht es, dass neben der Verfahrensgebühr – hier die Nrn. 4104, 4105 VV – immer auch die Grundgebühr – hier die Nrn. 4100, 4101 VV – entstehen. Ich verweise auf die Anm. 1 zur Nr. 4100 VV und die dazu vorliegende (ober-)gerichtliche Rspr. (OLG Saarbrücken RVGreport 2015, 64 = StRR 2015, 117; LG Amberg RVGreport 2020, 141 = JurBüro 2020, 358; LG Chemnitz RVGreport 2015, 265 = StRR 2015, 319 = AGS 2015, 379; LG Duisburg VRR 2014, 319 = AGS 2014, 330 = zfs 2014, 468 = StRR 2014, 360 = RVGreport 2014, 427; LG Oldenburg RVGreport 2014, 470 = zfs 2014, 648 = AGS 2014, 552 = StRR 2015, 80; LG Saarbrücken RVGreport 2015, 221 = StRR 2015, 239 = AGS 2015, 389; LG Wuppertal RVGreport 2020, 221 = JurBüro 2020, 357; a.A. – ohne nähere Begründung – OLG Celle, Beschl. v. 26.1.2022 – 2 Ws 19/22, AGS 2022, 206; OLG Nürnberg RVGreport 2016, 105 = StraFo 2015, 39 = AGS 2015, 29 = StRR 2015, 118 = NStZ-RR 2015, 95 [Ls.]). Warum das bei einer Pauschgebühr anders sein soll, erläutert das OLG nicht. Der Verweis auf eine "wertende Gesamtbetrachtung" (vgl. KG, Beschl. v. 2.10.2015 – 1 ARs 26/13 = RVGreport 2016, 16) führt nicht weiter und ist zudem m.E. auch noch falsch, weil der durch die erste Akteneinsicht entstandene Arbeitsaufwand durch die Grundgebühr Nr. 4100 VV abgegolten wird und nicht durch die Verfahrensgebühr Nr. 4104 VV. Zudem erschließt sich die "Beschränkung" auch deshalb nicht, weil das OLG selbst auf einen "nicht unerheblichen Besprechungsbedarf" des Pflichtverteidigers abgestellt hat. Der wird aber eben nicht (mehr) von der Grundgebühr Nr. 4100 VV, sondern von der Verfahrensgebühr abgegolten (zur Grundgebühr eingehend Burhoff/Volpert/Burhoff, RVG Straf- und Bußgeldsachen, 6. Aufl., 2021, Nr. 4100 VV Rn 1 ff. m.w.N.).
Das OLG hätte also bei der Bemessung der Pauschgebühr das Doppelte der gesetzlichen Gebühren der Nrn. 4100, 4101 VV und der Nrn. 4104, 4105 VV = 2 x 393,00 EUR = 786,00 EUR oder, wenn man schon nur eine Gebühr zugrunde legen will, das Doppelte der Nrn. 4100, 4101 VV, also 432,00 EUR zugrunde legen müssen. Das ist in beiden Fällen mehr als die bewilligten 354,00 EUR.
c) Auch die Ausführungen des OLG zur Berücksichtigung der Fahrzeiten für die JVA-Besuche können nicht unwidersprochen bleiben. Denn, ob und ggf. in welchem Umfang Fahrtzeiten zur Bewilligung einer Pauschgebühr führen und/oder wie sie bei der Höhe der Pauschgebühr zu berücksichtigen sind, ist in Rspr. und Lit. umstritten, was das OLG offenbar übersieht.
Teilweise wird die Fahrtzeit, die der Pflichtverteidiger für die Anreise von seinem auswärtigen Kanzleisitz zum Gerichtsort aufwenden muss, berücksichtigt (OLG Bremen StV 1998, 621 = StraFo 1998, 358; OLG Karlsruhe StV 1990, 369; OLG Köln NJW 1964, 1334; auch AnwK-RVG/N. Schneider, 9. Aufl., 2021, § 51 Rn 33 unter Hinw. auf BVerfG NJW 2001, 1269 = StV 2001, 241 = AGS 2001, 63), teilweise wird dies überhaupt abgelehnt (zum RVG u.a. BVerfG NJW 2005, 1264; BGH StraFo 2015, 349 = StRR 2015, 358 = NStZ-RR 2015, 295 = RVGreport 2015, 375 = zfs 2015, 587 = NJW 2015, 2437 = AGS 2016, 5; StraFo 2020, 174 = RVGreport 2020, 168 = NStZ-RR 2020, 160; OLG Celle StraFo 2005, 273 = RVGreport 2005, 142; OLG Köln RVGreport 2006, 75; OLG Nürnberg RVGreport 2018, 140 = Sonderausgabe StRR 12/2018, 18; OLG Stuttgart, Beschl. v. 4.7.2016 – 4 ARs 91/15, RVGreport 2016, 374).
Andere OLG vertreten – zutreffend – eine differenzierende Auffassung. Sie berücksichtigen bei der Frage, ob dem Pflichtverteidiger überhaupt eine Pauschgebühr zu bewilligen ist, Fahrtzeiten nicht (OLG Hamm RVGreport 2005, 70; NJW 2007, 311 = RVGreport 2007, 63; so wohl auch OLG München JurBüro 2017, 410; JurBüro 2018, 409 = RVGreport 2018, 450; s. zur BRAGO auch OLG Nürnberg, StV 2000, 441). Ist hingegen bereit...