Vorbem. 4 Abs. 1, Teil 4 Abschnitt 3 VV RVG

Leitsatz

Auch der notwendige Verteidiger, der nur für einen Tag bzw. Termin bestellt ist, ist für diesen begrenzten Zeitraum umfassend mit der Wahrnehmung der Verteidigerrechte und -pflichten betraut. Daher kommt auch angesichts einer zeitlichen Begrenzung der Beiordnung eine gebührenrechtliche Einstufung der Tätigkeit als Einzeltätigkeit nicht in Betracht.

LG Tübingen, Beschl. v. 6.2.2023 – 9 Qs 25/23

I. Sachverhalt

Am 15.6.2022 wurde der Angeklagte, der aufgrund eines Haftbefehls des AG Tübingen vorläufig festgenommen worden war, dem Ermittlungsrichter des AG Dresden vorgeführt. In diesem Termin beantragte der Rechtsanwalt R 1 aus Dresden, dem früheren Angeklagten "für den heutigen Tag beigeordnet zu werden." Sodann wurde mit Verfügung des Vorsitzenden "für den heutigen Tag der Beschwerdeführer dem früheren Angeklagten pp. gem. § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO beigeordnet." Der Rechtsanwalt R 1 beantragte die Vorführung des früheren Angeklagten vor dem zuständigen Haftrichter. Anschließend wurde vom AG Dresden der Haftbefehl des AG Tübingen in Vollzug gesetzt.

Weitere Tätigkeiten hat Rechtsanwalt R 1 für den Angeklagten nicht erbracht. Inzwischen hat das AG Tübingen dem Angeklagten Rechtsanwalt R 2 aus Tübingen gem. § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO beigeordnet. Die Urkundsbeamtin hat unter Hinweis auf die Entscheidung des OLG Celle vom 19.8.2018 (3 Ws 221/18, StraFo 2018, 534 = RVGreport 2019, 17) nur die Terminsgebühr nebst Mehrwertsteuer festgesetzt. Die dagegen gerichtete Erinnerung des Rechtsanwalts hat das AG zurückgewiesen. In seiner dagegen gerichteten Beschwerde hat Rechtsanwalt R 1 im Wesentlichen ausgeführt, dass – anders als nach früher geltendem Recht – nach der seit 13.12.2019 geltenden Gesetzesfassung eine Pflichtverteidigerbestellung nach § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO, die hier erfolgt sei, eine vollwertige Verteidigerbestellung für das gesamte Verfahren darstelle und zur Beendigung der Aufhebung bedürfe.

II. Zeitlich beschränkte Beiordnung

Das LG verweist zunächst darauf, dass Rechtsanwalt R 2 auf seinen eigenen Antrag dem früheren Angeklagten für den Termin zur mündlichen Verhandlung und Haftbefehlsverkündung an diesem Tage als Pflichtverteidiger beigeordnet worden sei. Zwar sei die auf diesen Termin beschränkte Beiordnung – nach dem seit 13.12.2019 geltenden Recht – rechtswidrig, weil § 140 Abs. 1 Nr. 4 i.V.m. §§ 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 und 143 StPO eine Pflichtverteidigerbestellung für das gesamte Verfahren vorsehet, die mit rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens oder durch Aufhebung mit gesondertem Beschluss ende. Auch sei Rechtsanwalt R 2 nicht lediglich Terminsvertreter von Rechtsanwalt R 1, was eine zeitlich befristete Bestellung gerechtfertigt hätte, denn Rechtsanwalt R 2 war in der Sache noch nicht tätig und auch nicht beigeordnet worden, sodass der Angeklagte bei dem Verhandlungstermin noch keinen Verteidiger gehabt habe. Jedoch sei der in Bezug auf die zeitliche Begrenzung der Beiordnung rechtswidrige Beschluss nicht mit der sofortigen Beschwerde gem. § 142 Abs. 7 StPO angefochten worden, sodass er mit seinem rechtswidrigen Inhalt Bestand habe.

III. Voller Gebührenanspruch

Dies ändere jedoch nichts daran, dass Rechtsanwalt R 2 die Gebühren eines notwendigen Verteidigers vollumfänglich geltend machen könne. Denn auch der notwendige Verteidiger, der nur für einen Tag bzw. Termin bestellt sei, sei für diesen begrenzten Zeitraum umfassend mit der Wahrnehmung der Verteidigerrechte und -pflichten betraut. Daher kommt auch angesichts der zeitlichen Begrenzung der Beiordnung eine gebührenrechtliche Einstufung der Tätigkeit als Einzeltätigkeit "nach Nr. 4102 VV" nicht in Betracht (vgl. LG Magdeburg, Beschl. v. 16.7.2021 – 21 Qs 53/21, AGS 2021, 427 = StRR 12/2021, 31; AG Halle (Saale), Beschl. v. 20.5.2022 – 398 Gs 540 Js 594/22 (259/22), AGS 2022, 311 = RVG professionell 2022, 170). Angesichts der Umstände, dass die Haftbefehlseröffnung gerade einmal 20 Minuten dauerte, der Rechtsanwalt mangels Akteneinsicht wenig Vorbereitungszeit aufwenden musste und keinerlei weitere Tätigkeit im Strafverfahren mehr entfaltete, habe es sich vorliegend um eine "geradezu fürstliche und vom Gesetzgeber sicher nicht gewollte Honorierung der Tätigkeit des Rechtsanwalts", deren Ursache allerdings in einer fehlerhaften Befristung der Tätigkeitsdauer für den Rechtsanwalt liege, gehandelt.

IV. Übertragung auf die Kammer

Einer Übertragung der Sache auf die Kammer wegen besonderer Schwierigkeit tatsächlicher oder rechtlicher Art oder wegen grundsätzlicher Bedeutung habe es im Hinblick auf die Ursächlichkeit eines hoffentlich singulären Verfahrensfehlers des AG Dresden für den Streitfall nicht bedurft.

V. Bedeutung für die Praxis

1. Vorab: Die Entscheidung ist im Ergebnis zutreffend (vgl. dazu auch OLG Karlsruhe, Beschl. v. Beschl. v. 9.2.2023 – 2 Ws 13/23, AGS 2023, 164). Zu Recht erteilt das LG der abweichenden Auffassung des OLG Celle (a.a.O.) eine Absage (wegen der Einzelheiten s. die Anmerkung zu OLG Karlsruhe, a.a.O.).

2. Allerdings ist auf Folgendes hinzuweisen:

a) Die Ausführungen des LG unter II. und IV. hinsichtlich des "hoffentlich sing...

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