§ 48 RVG
Leitsatz
- Gegen eine Erstreckungsentscheidung ist das Rechtsmittel der – einfachen – Beschwerde statthaft.
- Auch der Staatsanwaltschaft steht die Befugnis zu, gegen eine Erstreckungsentscheidung Beschwerde einzulegen.
- Für die Erstreckung ist eine Gesamtwürdigung aller Umstände vorzunehmen.
- Zum Entstehen von Grundgebühr und Verfahrensgebühr.
LG Siegen, Beschl. v. 19.2.2024 – 10 Qs 4/24
I. Sachverhalt
Die Staatsanwaltschaft wendet sich gegen eine amtsgerichtliche Entscheidung, mit der die gebührenrechtliche Regelung des § 48 Abs. 6 S. 1 RVG auf Verfahren, die mit einem führenden Verfahren 66 Js 163/23 verbunden wurden, erstreckt wurden.
Gegen die Beschuldigte laufen mehrere Ermittlungsverfahren bei der Staatsanwaltschaft Siegen. Für die Beschuldigte ist durch Beschluss des AG u.a. eine Betreuerin für den Aufgabenkreis "Vertretung gegenüber Ermittlungsbehörden/Vertretung in strafrechtlichen Angelegenheiten" bestellt.
Die Polizei versandte zunächst in dem (führenden) Verfahren 66 Js 163/23 einen Beschuldigtenfragebogen an die Betreuerin der Beschuldigten, woraufhin sich der Rechtsanwalt R meldete und mit Antrag vom 8.2.2023 die Bestellung als notwendiger Verteidiger beantragte. Mit Beschl. v. 16.3.2023 wurde er als notwendiger Verteidiger bestellt. Auch in weiteren Ermittlungsverfahren gegen die Beschuldigte stellte Rechtsanwalt R einen Antrag auf Bestellung als notwendiger Verteidiger. Die Staatsanwaltschaft Siegen verband in der Folge, zu unterschiedlichen Zeitpunkten, die einzelnen Ermittlungsverfahren miteinander. Es finden sich solche Anträge und Entscheidungen, und zwar im Verfahren 66 Js 163/23 Antrag vom 8.2.2023, im Verfahren 66 Js 198/23 Verbindung vom 13.3.2023, im Verfahren 66 Js 179/23 Verbindung vom 13.3.2023, im Verfahren 66 Js 308/23 Antrag vom 17.3.2023, Verbindung vom 25.4.2023, im Verfahren 66 Js 380/23 Antrag vom 17.3.2023, Verbindung vom 25.4.2023, im Verfahren 66 Js 623/23 Verbindung vom 31.5.2023, im Verfahren 66 Js 659/23 Antrag vom 31.5.2023, Verbindung vom 13.7.2023, im Verfahren 66 Js 660/23 Antrag v. 31.5.2023, Verbindung vom 16.6.2023, im Verfahren 66 Js 661/23 Antrag 31.5.2023, Verbindung vom 16.6.2023, im Verfahren 66 Js 730/23 Verbindung vom 29.6.2023, im Verfahren 66 Js 731/23 Verbindung vom 29.6.2023 und im Verfahren 69 Js 1062/23 Antrag vom 17.7.2023, Verbindung vom 19.9.2023.
Eine Bestellung des Rechtsanwalts R erfolgte nur in den Verfahren 66 Js 163/23 und 66 Js 661/23. Mit Schriftsatz vom 16.10.2023 beantragte Rechtsanwalt R daher, die gebührenrechtliche Rückwirkung auf die hinzuverbundenen Verfahren 66 Js 308/23, 66 Js 380/23, 66 Js 660/23, 66 Js 623/23, 66 Js 661/23 und 66 Js 1062/23 zu erstrecken. Das AG hat mit Beschl. v. 23.11.2023 festgestellt, dass der Vergütungsanspruch des Verteidigers sich auf die Verfahren der Staatsanwaltschaft Siegen 66 Js 308/23, 66 Js 623/23, 66 Js 380/23 und 66 Js 1062/23 erstreckt (vgl. AG Siegen, Beschl. v. 23.11.2023 – 450 Gs 1656/23). Das hat das AG wie folgt begründet:
Zitat
"Im vorliegenden Fall erfolgte die Bestellung des Verteidigers jeweils rechtzeitig vor einer Verbindung der Verfahren. In allen Fällen, in denen nicht über eine Beiordnung entschieden wurde, wurde der Antrag schon überhaupt nicht dem Gericht zur Entscheidung zugeleitet, obwohl § 141 Abs. 1 StPO eine unverzügliche Entscheidung über den Antrag anordnet. Der Verteidiger hat auch in sämtlichen Verfahren Tätigkeiten erbracht. Hierzu wird auf die Schriftsätze des Verteidigers vom 14.11.2023 und 17.11.2023 Bezug genommen."
Diese Entscheidung wurde der Staatsanwaltschaft am 27.11.2023 zugestellt. Mit Verfügung vom 28.12.2023, beim AG am 5.1.2024 eingegangen, hat die Staatsanwaltschaft hiergegen Beschwerde eingelegt. Zur Begründung wurde u.a. ausgeführt, dass verfahrensbezogene Vergütungsansprüche nur dann entstehen können, wenn der Rechtsanwalt in dem jeweiligen Verfahren eine konkrete Tätigkeit erbracht hat, woran es hier aber mangele. Das Rechtsmittel hatte beim LG Erfolg.
II. Statthaftigkeit der Beschwerde
Das LG hat die Beschwerde der Staatsanwaltschaft als statthaft angesehen. Zwar sei im RVG kein ausdrücklicher Rechtsbehelf gegen eine Entscheidung nach § 48 Abs. 6 S. 3 RVG geregelt. Aus diesem Grunde habe auch das OLG Bremen in einer Entscheidung die Frage, ob eine (isolierte) Beschwerde gegen die Entscheidung über die Erstreckungsentscheidung nach § 48 Abs. 6 S. 3 RVG statthaft sei, verneint (OLG Bremen, Beschl. v. 23.4.2020 – 1 Ws 9/20, AGS 2020, 470 = RVGreport 2020, 298 = StRR 10/2020, 35). In dieser Entscheidung habe das OLG Bremen auf § 1 Abs. 3 RVG abgestellt, der vorsieht, dass die Vorschriften des RVG über die Erinnerung und die Beschwerde den Regelungen der für das zugrundeliegende Verfahren geltenden Verfahrensvorschriften vorgehen und nur dann, wenn eine spezielle Vorschrift wie z.B. § 52 Abs. 4 RVG auf die Vorschriften verweist, diese Anwendung finden. An einer solchen Vorschrift fehle es hier aber gerade, womit eine Beschwerde unstatthaft sei.
Dieser, soweit ersichtlich, einzelnen Ansicht folgt das LG nicht. Es bej...