Eine schöne und richtige Entscheidung, zu der Folgendes anzumerken ist:

1. Angefallene Gebühren

Das LG "verteilt" die vom Verteidiger, der auch im Ausgangsverfahren tätig war, in Zusammenhang mit einem Rechtsmittel zu erbringenden Tätigkeiten zutreffend: Die Rechtsmitteleinlegung selbst sowie beratende Tätigkeit vor der Einlegung werden mit der Verfahrensgebühr für das erstinstanzliche Verfahren abgegolten, was aus § 19 Abs. 1 S. 2 Nr. 10 RVG folgt. Alle Tätigkeiten des Verteidigers nach Einlegung des Rechtsmittels werden aber von der jeweiligen Verfahrensgebühr für die Rechtsmittelinstanz erfasst, was sowohl für das Berufungsverfahren (Nr. 4124 VV) als auch für das Revisionsverfahren (Nr. 4130 VV) (vgl. KG RVGreport 2009, 346 = VRR 2009, 277 = AGS 2009, 389 = RVGprofessionell 2009, 169 = StRR 2009, 399; NStZ 2017, 305 = StraFo 2016, 513 = RVGreport 2017, 237; LG Aurich RVGreport 2013, 60 = AGS 2013, 174 = RVGprofessionell 2013, 10 = StRR 2013, 159; AG Halle, Beschl. v. 16.6.2021 – 322 Ds 370 Js 16649/20, AGS 2022, 516 = VRR 4/2022, 32) gilt, wobei eine nach außen erkennbare Tätigkeit nicht erforderlich ist (u.a. OLG Braunschweig, Beschl. v. 19.1.2023 – 1 Ws 309/22, AGS 2023, 80). Das ist st. Rspr. aller – soweit ersichtlich – damit bisher befassten Gerichte.

2. Notwendigkeit

Um die Frage der Notwendigkeit der Tätigkeiten im Rechtsmittelverfahren wird in der Rspr. hingegen heftig gestritten. Damit geht es aber meist um den Fall, dass die Staatsanwaltschaft ein von ihr eingelegtes Rechtsmittel vor dessen Begründung zurücknimmt. Dann wird häufig dahin argumentiert, dass bis dahin schon erbrachte Tätigkeiten des Verteidigers, die zum Entstehen der Verfahrensgebühr für die Rechtsmittelinstanz geführt haben, nicht notwendig gewesen seien und daher die Verfahrensgebühr nicht zu erstatten sei (so u.a. die vom Vertreter der Landeskasse zitierte Entscheidung des OLG Stuttgart, a.a.O.). Dass das falsch ist, habe ich bereits mehrfach dargelegt (vgl. zuletzt die Anmerkung zu OLG Stuttgart, a.a.O.).

3. "Notwendigkeit" beim Pflichtverteidiger

Mit der Frage haben wir es hier aber nicht zu tun, sodass der Vergleich des Vertreters der Staatskasse zwischen Wahlanwalt und Pflichtverteidiger "hinkt", was das LG richtig erkannt hat. Hier ging es vielmehr darum, dass der Verteidiger bei der Einlegung seiner Berufung darauf hingewiesen hatte, dass die Einlegung zunächst nur fristwahrend erfolge, um dem Mandanten die Möglichkeit zu geben, sich erneut mit ihm zu besprechen, was vor dem Hintergrund, dass die Staatsanwaltschaft im Hauptverhandlungstermin eine Freiheitsstrafe von zwölf Monaten ohne Bewährung beantragt und in der Hauptverhandlung nach Verurteilung zu einer Bewährungsstrafe keinen Rechtsmittelverzicht erklärt hatte, verständlich ist/war. Daraus und aus der später erfolgten Berufungsrücknahme nun den Schluss ziehen zu wollen – was der Vertreter der Staatskasse tut –, dass deshalb die Verfahrensgebühren für das Berufungsverfahren nicht entstanden seien, ist m.E. abwegig. Entscheidend ist – und darauf will das LG auch wohl abstellen – die Sicht "ex ante". Aus der Sicht war die Berufungseinlegung aber notwendig, schon um ggf. in Gesprächen mit der Staatsanwaltschaft nach Rücknahme einer ggf. von dort aus eingelegten Berufung über die beiderseitige Rücknahme "verhandeln" zu können. Dass das nicht erforderlich geworden ist, weil die Staatsanwaltschaft Berufung nicht eingelegt hat, führt nicht zum Wegfall der entstandenen Verfahrensgebühr für das Rechtsmittelverfahren. Das ist der Rechtsgedanke des § 15 Abs. 4 RVG.

Wohltuend ist in dem Zusammenhang der Hinweis des LG, dass die Entscheidung über die Art und Weise der Verteidigung grds. dem Verteidiger und seinem Mandanten obliege und im Rahmen einer gerichtlichen Überprüfung dieser Entscheidung im Hinblick auf die Notwendigkeit einzelner Verteidigungshandlungen eine gewisse Zurückhaltung geboten erscheine. Das liest man leider viel zu selten und das wird leider noch viel seltener beachtet.

4. Verfahrensweise des Verteidigers

Aber: Dem Verteidiger ist bei aller Freude über die Entscheidung dennoch Vorsicht angeraten. Denn sie ist kein Freibrief für Verteidigerhandeln im Rechtsmittelverfahren. Das LG lässt m.E. deutlich erkennen, dass es ggf. zu einer Beurteilung gekommen wäre, wenn der Verteidiger die Rücknahme der Berufung verbindlich angekündigt hätte, falls die Staatsanwaltschat ein ggf. von ihr eingelegtes Rechtsmittel wieder zurücknimmt. "Gerettet" hat den Verteidiger/Mandanten hier der Umstand, dass man auch in dem Fall die Sach- und Rechtslage noch einmal mit dem Mandanten erörtern wollte. Das sollte bei der Rechtsmitteleinlegung beachtet und ggf. ausgeführt werden.

Rechtsanwalt Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

AGS 6/2023, S. 270 - 272

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