1. Identitätsformel des RG
Nach der vom Reichsgericht in RGZ 145, 164 entwickelten sog. Identitätsformel liegt derselbe Streitgegenstand vor, wenn das Zusprechen der Klage zwingend zur Folge hat, dass die Widerklage abgewiesen werden muss und wenn das Zusprechen der Widerklage zwingend zur Folge hat, dass die Klage abgewiesen werden muss. Derselbe Gegenstand in einem Rechtsmittelverfahren liegt danach vor, wenn der Erfolg des Rechtsmittelführers zugleich zur Folge hat, dass das Rechtsmittel des Rechtsmittelgegners zurückzuweisen ist und wenn der Erfolg des Rechtsmittelgegners zwingend zur Zurückweisung des Rechtsmittels des Rechtsmittelführers führt. Diese Identitätsformel hat auch heute noch grds. Gültigkeit.
2. Wirtschaftliche Identität muss hinzukommen
Im Laufe der Zeit hat man aber erkannt, dass die Identitätsformel für sich genommen nicht ausreichend ist, um alle Fälle abzudecken. Vielmehr hat man erkannt, dass neben dem wechselseitigen Ausschluss auch eine wirtschaftliche Identität hinzukommen muss. Am besten lässt sich dies bei wechselseitigen Anträgen auf Zugewinn erkennen. Machen Ehegatten wechselseitig Zugewinnausgleichsansprüche geltend, kann nur einer von ihnen obsiegen; gleichwohl werden die Werte addiert, da es um wirtschaftlich unterschiedliche Positionen geht (OLG Köln NZFam 2014, 607; OLG Hamm NZFam 2016, 423). Gleiches gilt bei wechselseitigen Unterhaltsabänderungsanträgen (OLG München AGS 2007, 364 = FamRZ 2007, 750 = ZFE 2007, 31). Auch hier sind die Werte der einzelnen Abänderungsanträge nach zutreffender Ansicht zu addieren, obwohl nur einer der Anträge Erfolg haben kann.
3. Wirtschaftliche Identität fehlt bei gegenläufigen Teilanfechtungen
Ebenso verhält es sich hier, wenn eine Entscheidung angefochten wird und beide Beteiligte wirtschaftlich verschiedene Positionen der erstinstanzlichen Entscheidung angreifen, also wenn – wie hier – ein Beteiligter sich gegen die Teilabweisung wendet und der andere Beteiligte gegen die teilweise Stattgabe des erstinstanzlichen Antrags.
4. Vergleichbare Fälle in Haftpflichtprozessen
Vergleichbare Fälle kommen in Verkehrsunfallsachen vor, wenn vom Kläger eine Erhöhung der Haftungsquote und vom Beklagten eine Herabsetzung der Haftungsquote angestrebt wird. Auch hier schließt der Erfolg des einen Rechtsmittels den des anderen aus. Gleichwohl findet eine Addition der beiden Streitwerte statt (OLG Oldenburg AGS 2019, 518 = NdsRpfl 2020, 40 = JurBüro 2020, 37 = NJW-Spezial 2019, 731).
Rechtsanwalt Norbert Schneider, Neunkirchen
AGS 6/2023, S. 282 - 283