Vorbem. 4 Abs. 1, Nrn. 4100, 4104, 4142, 7002 VV RVG

Leitsatz

Auch der Pflichtverteidiger, der nur für einen Tag bzw. Termin bestellt ist, ist für diesen begrenzten Zeitraum umfassend mit der Wahrnehmung der Verteidigerrechte und -pflichten betraut. Daher kommt auch im Hinblick auf die zeitliche Begrenzung der Beiordnung eine gebührenrechtliche Einstufung der Tätigkeit als bloße Einzeltätigkeit nach der Nr. 4301 Nr. 4 VV nicht in Betracht. Für den Pflichtverteidiger fallen alle Gebühren, und zwar ggf. auch die Nr. 4142 VV an.

LG Bad Kreuznach, Beschl. v. 21.5.2024 – 2 Qs 14/24

I. Sachverhalt

Das AG hat gegen den Beschuldigten Haftbefehl wegen des dringenden Tatverdachts des gewerbs- und bandenmäßigen Betruges erlassen. Der Beschuldigte wurde am 21.12.2022 vorläufig festgenommen und noch am selben Tag dem Ermittlungs- und Haftrichter beim AG vorgeführt. Rechtsanwalt R 1, den der Beschuldigte bei seiner vorläufigen Festnahme gegenüber der Polizei als Verteidiger benannt hatte, von welchem er gerne vertreten werden möchte, wurde über die Verhaftung informiert. Er sagte daraufhin telefonisch zu, die Verteidigung zu übernehmen, konnte aber an dem Vorführtermin am 21.12.2022 aufgrund von Terminkollisionen nicht teilnehmen. Aus diesem Grund ordnete das AG in dem Vorführtermin am 21.12.2022 dem Beschuldigten – mit dessen Einverständnis – Rechtsanwalt R 2 "für den heutigen Termin" als Pflichtverteidiger bei. Im Rahmen des Vorführtermins hielt das AG den Haftbefehl aufrecht und setzte diesen in Vollzug.

Mit Beschl. v. 29.12.2022 bestellte das AG auf entsprechenden Antrag des Rechtsanwaltes R 1 diesen zum Pflichtverteidiger des damaligen Beschuldigten. Im weiteren Verlauf des Strafverfahrens nahm Rechtsanwalt R 2 keine weiteren Verfahrenshandlungen mehr für den Beschuldigten vor.

Rechtsanwalt R 2 hat die Festsetzung seiner Pflichtverteidigergebühren beantragt, und zwar Festsetzung einer Grundgebühr Nr. 4101 VV, einer Verfahrensgebühr Nr. 4105 VV, einer Terminsgebühr Nr. 4103 VV und einer Verfahrensgebühr Nr. 4142 VV sowie Auslagen und Umsatzsteuer. Das AG hat, da die Beiordnung zum Pflichtverteidiger ausdrücklich lediglich "für die Haftbefehlseröffnung" erfolgt sei, nur eine Gebühr für eine Einzeltätigkeit nach der Nr. 4301 Nr. 4 VV nebst Postentgeltpauschale und Umsatzsteuer festgesetzt. Dagegen hat Rechtsanwalt R 2 Rechtsmittel eingelegt. Das AG hat die Erinnerung als unbegründet verworfen. Die dagegen gerichtete Beschwerde des Rechtsanwalt R 2 hatte bei der Strafkammer des LG, auf die der zuständige Einzelrichter das Beschwerdeverfahren gem. § 56 Abs. 2 S. 1 i.V.m. § 33 Abs. 8 S. 2 RVG wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache der Kammer übertragen hat, überwiegend Erfolg.

II. Beschränkte Pflichtverteidigerbestellung rechtswidrig ...

Nach Auffassung des LG war die auf den Vorführtermin am 21.12.2022 beschränkte Beiordnung des Rechtsanwalts R 1 – nach der seit dem 13.12.2019 geltenden Rechtslage – rechtswidrig, weil § 140 Abs. 1 Nr. 4 i.V.m. § 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 und § 143 StPO eine Pflichtverteidigerbestellung für das gesamte Verfahren vorsehe, die mit rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens oder durch Aufhebung mit gesondertem Beschluss ende. Dabei sehe § 143 Abs. 2 S. 4 StPO ausdrücklich für die Fälle des § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO vor, dass eine Aufhebung erfolgen solle, falls der Beschuldigte auf freien Fuß gesetzt werde – was hier nicht der Fall war. Auch sei Rechtsanwalt R 2 nicht lediglich Terminsvertreter des verhinderten Rechtsanwalts R 1 gewesen, was eine zeitlich befristete Bestellung gerechtfertigt hätte. Denn Rechtsanwalt R 1 war in der Sache noch nicht tätig und vom Gericht zum Zeitpunkt des Vorführtermins am 21.12.2022 noch nicht beigeordnet worden, sodass der damalige Beschuldigte bei dem Vorführtermin am 21.12.2022 noch keinen (Pflicht-)Verteidiger hatte.

III. … dennoch alle Gebühren

Selbst wenn man davon ausgehe, dass der in Bezug auf die zeitliche Begrenzung der Beiordnung rechtswidrige Beschluss des AG, weil er nicht mit der sofortigen Beschwerde gem. § 142 Abs. 7 StPO angefochten worden ist, mit seinem rechtswidrigen Inhalt Bestand hatte, ändert dies nach Auffassung des LG nichts daran, dass Rechtsanwalt R 2 die Gebühren eines Pflichtverteidigers vollumfänglich geltend machen kann. Denn auch der Pflichtverteidiger, der nur für einen Tag bzw. Termin bestellt ist, ist für diesen begrenzten Zeitraum umfassend mit der Wahrnehmung der Verteidigerrechte und -pflichten betraut. Daher komme auch im Hinblick auf die zeitliche Begrenzung der Beiordnung eine gebührenrechtliche Einstufung der Tätigkeit als bloße Einzeltätigkeit nach der Nr. 4301 Nr. 4 VV nicht in Betracht (vgl. LG Magdeburg AGS 2021, 427; a.A. OLG Stuttgart AGS 2023, 162). Dies müsse jedenfalls dann gelten, wenn – wie vorliegend – dem Beschuldigten zum Zeitpunkt des Vorführtermins noch kein anderer Pflichtverteidiger bestellt worden ist und daher der – nach den obigen Darlegungen wenn auch rechtswidrig – lediglich für den Vorführtermin bestellte Pflichtverteidiger nicht nur als Terminsvertreter eines verhinderten anderen Pflichtverteidigers agiere, s...

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