§ 144 StPO
Leitsatz
- Ein Verteidiger kann gem. § 297 StPO Rechtsmittel für einen Beschuldigten im eigenen Namen einlegen; für ein solches Verständnis eines vom Verteidiger eingelegten Rechtsmittels streitet eine Regelvermutung.
- Zu den Voraussetzungen für die Bestellungen eines zweiten Verteidigers gem. § 144 StPO.
BGH, Beschl. v. 24.3.2022 – StB 5/22
I. Sachverhalt
Bei OLG Stuttgart ist gegen den Angeklagten und eine Mitangeklagte ein Strafverfahren anhängig, das den Vorwurf zum Gegenstand hat, der Angeklagte habe sich u.a. wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland strafbar gemacht. Die Hauptverhandlung hat begonnen und dauert an. Der Vorsitzende des Strafsenats hat den Antrag, dem Angeklagten Rechtsanwalt S. als zweiten Pflichtverteidiger zusätzlich beizuordnen, abgelehnt. Gegen diesen Beschluss wendet sich der Pflichtverteidiger des Angeklagten, Rechtsanwalt K. mit der sofortigen Beschwerde. Diese war zulässig, hatte in der Sache aber keinen Erfolg.
II. Rechtsmittel des Angeklagten
Der BGH hatte keine Bedenken gegen die Zulässigkeit des Rechtsmittels. Zwar werde – so der BGH – in der Beschwerdeschrift des Pflichtverteidigers nicht dargetan, ob dieser das Rechtsmittel für sich oder als Verteidiger des Angeklagten für diesen eingelegt habe. Als eigene Beschwerde des bereits bestellten Pflichtverteidigers wäre das Rechtsmittel aber nicht statthaft gewesen, weil die Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers allein der Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens dient, nicht aber auch im Eigeninteresse des schon tätigen Pflichtverteidigers – etwa zur Reduzierung der mit seiner Tätigkeit verbundenen Arbeitsbelastung – erfolge (vgl. zur Frage der Beschwer des Pflichtverteidigers durch seine Bestellung betreffende Entscheidungen BGHSt 65, 106; NJW 2020, 1534 = AGS 2021, 93). Jedoch könne ein Verteidiger gem. § 297 StPO Rechtsmittel für einen Beschuldigten im eigenen Namen einlegen; für ein solches Verständnis eines vom Verteidiger eingelegten Rechtsmittels streite eine Regelvermutung (BGHSt 61, 218; konkret für einen Verteidigerantrag nach § 144 Abs. 1 StGB auch KG, Beschl. v. 12.1.2022 – 4 Ws 4/22). Hier ließen nach Auffassung des BGH zudem die vorgebrachten Argumente, die auf die Interessen des Angeklagten und nicht auf persönliche Belange des Verteidigers bezogen seien, erkennen, dass die Beschwerde vom Pflichtverteidiger für den Angeklagten eingelegt worden und damit ein Rechtsmittel des Angeklagten sei. Der Angeklagte selbst sei beschwerdebefugt (vgl. BGH NJW 2020, 3736 = AGS 2021, 140 [insoweit in BGHSt 65, 129 nicht abgedr.]; OLG Bremen, Beschl. v. 30.4.2021 – 1 Ws 24/21; OLG Hamm, Beschl. v. 5.5.2020 – III-4 Ws 94/20).
III. Begründetheit des Rechtsmittels
Das Rechtsmittel hatte jedoch in der Sache keinen Erfolg.
1. Voraussetzungen des § 144 StPO
Nach ihrem Wortlaut habe die Vorschrift des § 144 Abs. 1 StPO zur zentralen Voraussetzung, dass die Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens die Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers erfordert. Eine solche Bestellung sei somit nicht schon dann geboten, wenn sie eine das weitere Verfahren sichernde Wirkung habe, also grds. zur Verfahrenssicherung geeignet sei. Vielmehr müsse die Bestellung eines Sicherungsverteidigers zum Zeitpunkt ihrer Anordnung zur Sicherung der zügigen Verfahrensdurchführung notwendig sein (BGHSt 65, 129). Soweit der Gesetzeswortlaut "Umfang oder Schwierigkeit" des Verfahrens anführe, benenne er lediglich exemplarisch ("insbesondere") Hauptanwendungsfälle für diese zentrale Normvoraussetzung. Hierauf sei bei der Auslegung Bedacht zu nehmen. Die Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers als Sicherungsverteidiger sei nach allem lediglich in eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht zu ziehen. Ein derartiger Fall sei nur anzunehmen, wenn hierfür – etwa wegen des besonderen Umfangs oder der besonderen Schwierigkeit der Sache – ein "unabweisbares Bedürfnis" bestehe, um eine sachgerechte Wahrnehmung der Rechte des Angeklagten sowie einen ordnungsgemäßen und dem Beschleunigungsgrundsatz entsprechenden Verfahrensverlauf zu gewährleisten.
2. Notwendigkeit der Beiordnung
Von einer solchen Notwendigkeit sei auszugehen, wenn sich die Hauptverhandlung voraussichtlich über einen besonders langen Zeitraum erstrecke und zu ihrer regulären Durchführung sichergestellt werden müsse, dass auch bei dem Ausfall eines Verteidigers weiterverhandelt werden könne, oder der Verfahrensstoff so außergewöhnlich umfangreich oder rechtlich komplex sei, dass er nur bei arbeitsteiligem Zusammenwirken mehrerer Verteidiger in der zur Verfügung stehenden Zeit durchdrungen und beherrscht werden könne (vgl. BGH, a.a.O. m.w.N. zur grds. weiterhin relevanten Rspr. aus der Zeit vor der Schaffung des § 144 StPO durch die Neuregelung; KG, Beschl. v. 12.1.2022 – 4 Ws 4/22; OLG Brandenburg, Beschl. v. 21.10.2021 – 2 Ws 166/21; s. auch BT-Drucks 19/13829, 49 f.). Bei der Entscheidung über die Bestellung eines Sicherungsverteidigers komme dem hierzu gem. § 142 Abs. 3 StPO berufenen Richter ein nicht voll überprü...