§ 45 RVG; §§ 141 ff. StPO
Leitsatz
- Im Regelfall bedarf die Bestellung eines Verteidigers einer ausdrücklichen Verfügung des zuständigen Richters. Es kann die Bestellung eines Verteidigers in Ausnahmefällen aber auch durch das betreffende Gericht aufgrund schlüssigen Verhaltens erfolgen. Voraussetzung für eine konkludente Verteidigerbestellung ist ein Verhalten des zuständigen Richters, das unter Beachtung aller hierfür maßgebenden Umstände zweifelsfrei einen solchen Schluss rechtfertigt.
- Für die Auslegung des § 144 Abs. 1 StPO nach neuem Recht kann auf die Rechtsprechung zurückgegriffen werden, die sich vor der Reform durch das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019 (BGBl I, 2128) zur Zulässigkeit der Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers als Sicherungsverteidiger herausgebildet hatte.
OLG Köln, Beschl. v. 28.3.2022 – 2 Ws 103/22
I. Sachverhalt
Gegen den Angeklagten (und einen Mitangeklagten) wurde bei der Jugendkammer ein Verfahren wegen mehrfacher Brandstiftung, in einem Fall in Tateinheit mit versuchtem Mord, geführt. Der Angeklagte befand sich in Haft. Dem Angeklagten war Rechtsanwalt K. als Pflichtverteidiger beigeordnet. Mit Schreiben vom 15.7.2020 bestellte sich dann zusätzlich Rechtsanwältin L. als Wahlverteidigerin.
Zur Vorbereitung der Hauptverhandlung wurde zwischen dem damaligen Vorsitzenden der Jugendkammer und den Verteidigern im Rahmen der Terminabsprache telefonisch erörtert, zur Gewährleistung einer zeitnahen Durchführung der Hauptverhandlung – aufgrund teilweiser Terminverhinderung der beigeordneten Pflichtverteidiger der beiden Angeklagten – Rechtsanwältin W. als Sicherungsverteidigerin des Mitangeklagten und Rechtsanwältin L. als Sicherungsverteidigerin des Angeklagten beizuordnen. Der Angeklagte war mittellos, sodass seine Vertretung in sämtlichen anvisierten Terminen durch Rechtsanwältin L. nur durch ihre Beiordnung als Sicherungsverteidigerin sichergestellt werden konnte. Per E-Mail vom 20.11.2020 wandte sich der Vorsitzende an die beteiligten Verteidiger und fasste die vorherigen Terminabsprachen zusammen. Dort lautete es ausdrücklich:
"Mit Blick auf die im Rahmen der Terminabstimmung zutage getretene Terminlage der Verteidigung ist beabsichtigt, Frau Rechtsanwältin W. sowie Frau Rechtsanwältin L. verfahrenssichernd beizuordnen."
Mit Beschluss des Vorsitzenden vom 14.12.2020 wurde Rechtsanwältin W als weitere verfahrenssichernde Pflichtverteidigerin bezüglich der Mitangeklagten beigeordnet. Eine schriftliche Beiordnung hinsichtlich Rechtsanwältin L. unterblieb. Etwaige Gründe, die insoweit entgegen der E-Mail vom 20.11.2020 gegen eine Beiordnung sprachen, sind nicht aktenkundig.
Mit Eröffnungsbeschluss vom 22.12.2020 erfolgte zugleich eine Terminbestimmung von zunächst 15 Terminen im Zeitraum vom 25.1.2021 bis 18.3.2021. Rechtsanwältin L. wurde zu diesen Terminen geladen. Am 14.1.2021 wurde ihr die Kammerbesetzung mitgeteilt. Auch zu den weiter bestimmten Fortsetzungsterminen vom 8.2.2021 und 1.3.2021 wurde sie geladen. Rechtsanwältin L. nahm in der Zeit vom 25.1.2021 bis zur Verkündung des Urteils am 2.6.2021 an 21 Hauptverhandlungsterminen teil. Gegen das Urteil legten die Verteidiger des Angeklagten Revision ein.
Rechtsanwältin L. hat sodann ihren Vergütungsantrag gestellt. Im Rahmen des Vergütungsfestsetzungsverfahrens wurde dann festgestellt, dass ihre formelle Beiordnung bis dahin nicht erfolgt war. Rechtsanwältin L. hat daraufhin beantragt, die (zumindest) konkludente Beiordnung betreffend den Angeklagten nachträglich schriftlich zu fassen bzw. hilfsweise, sie rückwirkend dem Angeklagten als Pflichtverteidigerin beizuordnen. Dies wurde von der nunmehrigen Vorsitzenden der Jugendkammer abgelehnt. Sie ist davon ausgegangen, dass weder eine Bestellung durch schlüssiges Verhalten anzunehmen sei noch eine rückwirkende Bestellung in Betracht komme. Dagegen hat der Angeklagte sofortige Beschwerde eingelegt. Er hat beantragt, die (zumindest) konkludente Beiordnung von Rechtsanwältin L. als Sicherungsverteidigerin festzustellen, hilfsweise, diese nachträglich und rückwirkend als Pflichtverteidigerin beizuordnen. Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde hatte Erfolg. Nach Auffassung des OLG ist Rechtsanwältin L. dem Angeklagten für das Verfahren spätestens ab dem Beginn der Hauptverhandlung am 25.1.2021 und für deren gesamte Dauer als Sicherungsverteidigerin gem. § 144 Abs. 1 StPO beigeordnet worden.
II. (Konkludente) Bestellung
Im Regelfall bedürfe die Bestellung eines Verteidigers einer ausdrücklichen Verfügung des zuständigen Richters. An einer solchen fehle es, da keine formelle Beiordnung von Rechtsanwältin L. erfolgt sei. Sie sei aber – so das OLG – stillschweigend durch den Vorsitzenden beigeordnet worden.
In der Rspr. sei anerkannt, dass eine Bestellung eines Verteidigers in Ausnahmefällen durch das betreffende Gericht auch aufgrund schlüssigen Verhaltens erfolgen könne (vgl. u.a. BGH StraFo 2015, 37 = StV 2015, 739; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., 2021, § 142 Rn 17 m.w.N.; w.N. ...