Vorbem. 7 Abs. 2 VV RVG
Leitsatz
Der Begriff Kanzlei umfasst nicht nur den Hauptsitz, sondern auch Zweigstellen.
BVerwG, Beschl. v. 27.3.2023 – 3 KSt 1/22
I. Sachverhalt
Für ein erstinstanzliches Verfahren vor dem BVerwG hatte die Klägerin die Rechtsanwälte B. und S. beauftragt, die sowohl Kanzleiräume in Würzburg als auch Leipzig unterhalten. Zu den Terminen zur mündlichen Verhandlung vor dem BVerwG in Leipzig sind die Rechtsanwälte B. und S. aus Würzburg angereist und haben insoweit Reisekosten nach Nr. 7003 VV gegenüber der Klägerin abgerechnet. Diese Reisekosten hat die Klägerin anschließend im Kostenfestsetzungsverfahren geltend gemacht. Der Urkundsbeamte hat die Festsetzung dieser Reisekosten abgelehnt. Der hiergegen gerichtete Antrag auf gerichtliche Entscheidung hatte insoweit keinen Erfolg.
II. Keine Geschäftsreise
Die Kosten für die Reise der Rechtsanwälte B. und S. von Würzburg nach Leipzig zur mündlichen Verhandlung sind keine Auslagen i.S.d. § 162 Abs. 2 S. 1 VwGO i.V.m. Teil 7 VV. Die Reise war keine Geschäftsreise i.S.v. Vorbem. 7 Abs. 2 VV. Nach dieser Vorschrift liegt eine Geschäftsreise vor, wenn das Reiseziel außerhalb der Gemeinde liegt, in der sich die Kanzlei oder die Wohnung des Rechtsanwalts befinden. Der Begriff Kanzlei umfasst nicht nur den Hauptsitz, sondern auch an anderen Orten betriebene Zweigstellen (BVerwG NJW 2017, 3542 Rn 3). Da ein Rechtsanwalt im Bezirk der Rechtsanwaltskammer, deren Mitglied er ist, eine Kanzlei einrichten und unterhalten muss, kann eine weitere Niederlassung allerdings auch eine selbstständige Kanzlei sein. Voraussetzung hierfür ist, dass eine in der Niederlassung tätige Rechtsanwältin bzw. ein dort tätiger Rechtsanwalt Mitglied der für die Niederlassung örtlich zuständigen Rechtsanwaltskammer ist (vgl. BVerwG NJW 2017, 3542). Dass Rechtsanwältin Dr. H., die im Briefkopf neben Rechtsanwalt B. der Zweigstelle Leipzig zugeordnet war, Mitglied der Rechtsanwaltskammer Sachsen (gewesen) sei, hat die Klägerin nicht geltend gemacht. Nach dem Bundesweiten Amtlichen Anwaltsverzeichnis gehört Rechtsanwältin Dr. H. der Kammer Bamberg an. Hiernach ist davon auszugehen, dass die Niederlassung in Leipzig keine gegenüber der Kanzlei in Würzburg selbstständige Kanzlei, sondern – wie im Briefkopf angegeben – eine Zweigstelle dieser Kanzlei war, das Reiseziel also nicht außerhalb der Gemeinde lag, in der sich die Kanzlei befand.
Der Auffassung, dass eine Geschäftsreise unabhängig vom Ort der Kanzlei vorliege, wenn das Reiseziel außerhalb der Gemeinde liegt, in der sich der Wohnsitz des Rechtsanwalts befindet (so OLG Düsseldorf NJW-RR 2012, 764 = AGS 2012, 167), folgt der Senat nicht (wie hier OLG Koblenz NJW-RR 2015, 1408 = AGS 2015, 507; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 24.2.2016 – 3 Ws 409/15, juris Rn 6 = AGS 2016, 332; Gerold/Schmidt/Müller-Rabe, RVG, 25. Aufl., 2021, VV 7003–7006 Rn 10). Aufwendungen für Reisen zwischen der Wohnung eines Rechtsanwalts und seiner Kanzlei gehören zu den allgemeinen Geschäftskosten; einem besonderen Geschäft können sie nicht zugeordnet werden. Liegt das Gericht in der Gemeinde, in der sich der Sitz seiner Kanzlei befindet, entstehen durch die Fahrt vom Wohnsitz zum Gericht keine zurechenbaren Mehrkosten (vgl. Gerold/Schmidt/Müller-Rabe, a.a.O., VV 7003–7006 Rn 18).
III. Bedeutung für die Praxis
1. Gesetzliche Grundlage
Ein Rechtsanwalt darf Zweigstellen betreiben, also weitere unselbstständige Geschäftsräume an einem anderen Ort. Die Errichtung einer solchen Zweigstelle ist der eigenen Rechtsanwaltskammer unverzüglich anzuzeigen (§ 27 Abs. 2 BRAO). Eine Zweigstelle ist auch im Bezirk einer anderen Rechtsanwaltskammer zulässig. Eine Mitgliedschaft in dieser Rechtsanwaltskammer ist damit aber nicht verbunden.
Mehrere Kanzleien an verschiedenen Orten können sich andererseits aber auch zu einer überörtlichen Sozietät, einer überörtlichen Partnerschaftsgesellschaft, GmbH oder AG zusammenschließen. In diesem Fall werden nicht (unselbstständige) "Zweigstellen" unterhalten, sondern eigenständige Kanzleien mit eigenen Anwälten, die am jeweiligen Kanzleistandort tätig und zugelassen sind. Das kann je nach örtlichen Gegebenheiten auch dazu führen, dass die Mitglieder einer überörtlichen Sozietät, Partnerschaft, GmbH oder AG bei verschiedenen Rechtsanwaltskammern zugelassen sind.
2. Kostenerstattung bei Zweigstellen
Unterhält ein Anwalt eine Zweigstelle, betreibt er also neben seiner Kanzlei am Hauptsitz weitere Kanzleiräume an einem anderen Ort, dann sollen nach der Rspr. beide Standorte zum Betrieb derselben Kanzlei gehören (OLG Koblenz NJW-RR 2015, 1408 = AGS 2015, 507 = NJW-Spezial 2015, 699 = FamRZ 2016, 256 = MDR 2015, 860; OLG Dresden AGS 2011, 275 = NJW 2011, 869 = Rpfleger 2011, 240 = RVGreport 2011, 145 = RVGprofessionell 2011, 87). Die Kanzlei des Anwalts habe also faktisch mehrere Geschäftssitze. Dies führt wiederum dazu, dass eine Geschäftsreise nur dann vorliegt, wenn das Ziel der Reise weder am Ort des Hauptsitzes noch am Ort einer Zweigstelle liegt, also an einem dritten Ort.
Beispiel
Der Anwalt hat seine (Haupt-)Kanzlei in Mü...