§ 15 Abs. 5 RVG; Nr. 2300, Vorbem. 3 Abs. 4 VV RVG
Leitsatz
Auch dann, wenn zwischen der Einlegung des Widerspruchs bei der Verwaltungsbehörde und der Entscheidung der Behörde über den Widerspruch mehr als zwei Kalenderjahre liegen, ist die Geschäftsgebühr im anschließenden Klageverfahren hälftig anzurechnen.
VG Cottbus, Beschl. v. 13.6.2022 – 1 KE 6/22
I. Sachverhalt
Der Rechtsanwalt hatte von der Klägerin am 24.8.2012 den Auftrag erhalten, gegen den Bescheid der Beklagten vom 20.8.2012 Widerspruch einzulegen. Er legte daraufhin am 29.8.2012 Widerspruch ein. Dieser Widerspruch wurde erst im Jahre 2016 beschieden, sodass der Anwalt daraufhin mit der Anfechtungsklage beauftragt wurde, die er am 4.4.2016 beim VG einreichte. Die Klage hatte Erfolg. Die Kosten des Verfahrens einschließlich der Kosten des Widerspruchsverfahrens wurden der beklagten Behörde auferlegt. Die Klägerin meldete sodann die ihr entstandenen Kosten zu Festsetzung an, darunter eine Geschäftsgebühr für das Widerspruchsverfahren (Nr. 2300 VV) und eine Verfahrensgebühr (Nr. 3100 VV) für das gerichtliche Verfahren. Eine Anrechnung der Geschäftsgebühr gem. Vorbem. 3 Abs. 4 VV auf die nachfolgende Verfahrensgebühr unterließ die Klägerin. Sie war der Auffassung, da zwischen Einlegung des Widerspruchs und der Erhebung der Klage mehr als zwei Kalenderjahre gelegen hätten, sei eine Anrechnung nach § 15 Abs. 5 S. 2 RVG ausgeschlossen. Das VG hat antragsgemäß festgesetzt. Die dagegen erhobene Erinnerung hatte Erfolg.
II. Anrechnung ist vorzunehmen / kein Ablauf von mehr als zwei Kalenderjahren
Der angefochtene Kostenfestsetzungsbeschluss hat zu Unrecht von einer Anrechnung der Geschäftsgebühr abgesehen. Zwar ist nach § 15 Abs. 5 S. 2 RVG eine Anrechnung ausgeschlossen, wenn der frühere Auftrag seit mehr als zwei Kalenderjahren erledigt ist. Diese Voraussetzungen liegen jedoch nicht vor. Die Zwei-Kalenderjahres-Frist wäre lediglich dann abgelaufen, wenn der Auftrag der Klägerin an ihren Prozessbevollmächtigten bereits mit der Erhebung des Widerspruchs erledigt gewesen wäre. Hiervon kann entgegen der Behauptung des Prozessbevollmächtigten der Klägerin jedoch nicht ausgegangen werden. Eine "Erledigung" des Auftrags i.S.v. § 15 Abs. 5 S. 2 RVG und § 8 Abs. 1 S. 1 RVG liegt nur dann vor, wenn der Anwalt seine Verpflichtungen aus dem Anwaltsvertrag vollständig erfüllt hat, was wiederum der Fall ist, wenn von ihm keine weiteren Handlungen in Erfüllung des Auftrags mehr zu erwarten sind. Die Entscheidung der Frage, wann dieser Zeitpunkt erreicht ist, hängt zwar von den Umständen des Einzelfalls ab, wobei auch von Bedeutung ist, ob der Anwalt selbst seinen Auftrag als erfüllt ansieht oder nicht (BGH, Beschl. v. 13.11.2008 – IX ZR 24/06). Das aber legt weder der Kostenfestsetzungsantrag dar noch hat die Prozessbevollmächtigte der Klägerin diesen Umstand nachfolgend hinreichend dargelegt oder gar glaubhaft gemacht. Die schlichte Behauptung des Anwalts, die Klägerin habe ihn (lediglich) beauftragt, gegen den Bescheid des Beklagten vom 20.8.2012 Widerspruch einzulegen und "dieser Auftrag (sei) mit Einlegung des Widerspruchs am 29.8.2012 erledigt" gewesen, ist nicht nachvollziehbar. Die im gerichtlichen Verfahren vorgelegte Vollmacht der Klägerin für ihre Prozessbevollmächtigten vom 24.8.2012 wurde umfassend zur Vertretung erteilt wegen "ungerechtfertigter Beitragserhebung" und sie ermächtigt ebenfalls umfassend zur Vertretung vor den Verwaltungsbehörden und vor den Verwaltungsgerichten und damit zur Vertretung im gesamten Widerspruchsverfahren bis zu seiner Beendigung. Auch vor diesem Hintergrund erscheint die sinngemäße Behauptung, der am 24.8.2012 erteilte Auftrag sei am 29.8.2012 beendet und im Rahmen der Klageerhebung vom 4.3.2016 neu erteilt worden, lebensfremd und konstruiert. Regelmäßig tritt im Widerspruchsverfahren – anders im gerichtlichen Verfahren, wonach die Vergütung dort auch fällig wird, wenn das Verfahren länger als drei Monate ruht, § 8 Abs. 1 S. 2 RVG – eine Erledigung des Auftrags nicht allein durch Zeitablauf, sondern durch erst Erlass des Widerspruchsbescheides ein. Allein der Umstand, dass sich der Rechtsanwalt wegen des Zeitablaufs erneut in die Sache einarbeiten muss, rechtfertigt keinen Verzicht auf die Anrechnung, wenn es an Anhaltspunkten für eine Erledigung des Auftrags fehlt.
III. Bedeutung für die Praxis
Der Anwalt war mit der Vertretung im Widerspruchsverfahren beauftragt worden. Ein solcher Auftrag endet erst mit Erlass des Widerspruchsbescheids oder mit vorheriger Rücknahme des Widerspruchs.
Dass sich die Bearbeitung des Verfahrens länger hinzieht, ist wie in allen anderen vergleichbaren Fällen unerheblich. So führen insbesondere eine Unterbrechung, eine Aussetzung oder ein Ruhen des Verfahrens nicht dazu, dass die Zwei-Kalenderjahres-Frist in Gang gesetzt wird (BGH NJW 2006, 1525; BayVGH NJW 2015, 648; FG Saarland NJW-Spezial 2008, 637).
Rechtsanwalt Norbert Schneider, Neunkirchen
AGS 8/2022, S. 358 - 359