Art. 103 GG; §§ 224, 224 ZPO
Leitsatz
Ein am Tag des Fristablaufs nach Dienstschluss per besonderem elektronischen Anwaltspostfach (beA) übermittelter Fristverlängerungsantrag ist noch rechtzeitig gestellt. Wird der Antrag vom Gericht nicht (mehr) berücksichtigt, kann darin ein Gehörsverstoß liegen. Verzögerungen bei der gerichtsinternen Weiterleitung gehen nicht zulasten der Partei.
BVerfG, Beschl. v. 10.5.2023 – 2 BvR 370/22
I. Sachverhalt
Die Klägerin hat gegen den Beklagten Zahlungsklage erhoben. Der Beklagte trat der Forderung entgegen. Das AG leitete die Klageerwiderung mit Schreiben vom 1.12.2021 weiter und setzte eine Frist zur Replik innerhalb von zwei Wochen. Das Schreiben ging am 6.12.2021 bei dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin ein.
Mit Schreiben vom 20.12.2021 beantragte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin Fristverlängerung. Aufgrund erheblicher Arbeitsüberlastung und urlaubsbedingter Ortsabwesenheit vom 6. bis 10.12.2021 sei eine inhaltliche Rücksprache mit der Klägerin nicht mehr rechtzeitig möglich. Das Schreiben wurde am 20.12.2021 um 17:54 Uhr per besonderes elektronisches Anwaltspostfach (beA) versandt.
Mit Urt. v. 21.12.2021 wies das AG die Klage ab. Das Urteil wurde der Geschäftsstelle am 21.12.2021, 13:35 Uhr, übergeben und den Parteien aufgrund Verfügung vom selben Tag zugestellt. Laut handschriftlichem Vermerk lag das Schreiben dem Richter zum Zeitpunkt der Abfassung des Urteils nicht vor.
Mit Schreiben ihres Prozessbevollmächtigten vom 30.12.2021 erhob die Klägerin Anhörungsrüge. Das Urteil sei ohne vorherige Entscheidung über ihren Fristverlängerungsantrag ergangen. Wäre die Frist antragsgemäß verlängert worden, was im Falle der erstmaligen Verlängerung zu erwarten sei, zumal tragfähige Gründe anwaltlich versichert worden seien, so wäre das Vorbringen des Beklagten bestritten worden. Mit Beschl. v. 20.1.2022 wies das AG die Anhörungsrüge als unbegründet zurück. Gegen Art. 103 Abs. 1 GG sei nicht in entscheidungserheblicher Weise verstoßen worden. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hätte sein Fristverlängerungsgesuch früher stellen müssen. Er habe nicht erwarten können, dass nach Ablauf der üblichen Dienstzeiten noch über sein Gesuch entschieden werde, und er habe nicht darauf vertrauen dürfen, dass dem Antrag stattgegeben werden würde. Bei Abfassung des Urteils habe der Antrag noch nicht einmal der Geschäftsstelle vorgelegen. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand könne nur bei plötzlicher und unvorhergesehener Arbeitsüberlastung gewährt werden. Die Klägerin hat Verfassungsbeschwerde erhoben, die Erfolg hatte.
II. Grundsätze zum rechtlichen Gehör
Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung angenommen und ihr stattgegeben. Das AG habe das Recht der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt. Art. 103 Abs. 1 GG garantiere die Möglichkeit der Verfahrensbeteiligten, sich mit tatsächlichen und rechtlichen Argumenten im gerichtlichen Verfahren zu behaupten (vgl. BVerfGE 55, 1, 6). Zu jeder dem Gericht unterbreiteten Stellungnahme der Gegenseite muss die Gelegenheit zur Äußerung bestehen (vgl. BVerfGE 19, 32, 36). Aus Art. 103 Abs. 1 GG folge aber keine Pflicht der Gerichte, sich mit jedem Vorbringen in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen. Denn grds. gehe das BVerfG davon aus, dass die Gerichte das Parteivorbringen zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen haben (vgl. BVerfGE 149, 86, 109). Art. 103 Abs. 1 GG sei daher erst dann verletzt, wenn sich im Einzelfall aus besonderen Umständen klar ergebe, dass tatsächliches Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung nicht erwogen worden sei (vgl. BVerfGE 65, 293, 295; 70, 288, 293; 86, 133, 145 f.).
III. Amtsgerichtliches Vorgehen nicht gerechtfertigt
Hier habe das AG den Fristverlängerungsantrag der Klägerin übergangen und sein den Rechtszug abschließendes Urteil erlassen, ohne darüber entschieden zu haben. Diese Vorgehensweise sei nicht gerechtfertigt. Maßgebliche Vorschrift für die Verlängerung gerichtlich gesetzter Stellungnahmefristen sei § 224 Abs. 2 ZPO. Nach § 224 Abs. 2 ZPO können richterliche Fristen verlängert werden, wenn erhebliche Gründe glaubhaft gemacht sind. Es werde dabei als zulässig angesehen, auf eine eidesstattliche Versicherung zu verzichten und eine bloße anwaltliche Versicherung ausreichen zu lassen (vgl. MüKo-ZPO/Stackmann, 6. Aufl., 2020, § 224 Rn 5), insbesondere dann, wenn es sich um eine erstmalige Verlängerung handele (vgl. Stackmann, a.a.O., § 225 Rn 4). Über einen Antrag auf Fristverlängerung könne nach § 225 Abs. 1 ZPO ohne mündliche Verhandlung entschieden werden.
Ein Antrag auf Fristverlängerung müsse innerhalb der noch laufenden Frist bei Gericht eingegangen sein (vgl. Stackmann, a.a.O., § 224 Rn 8). Nicht erforderlich sei dagegen, dass über ihn noch während des Fristlaufs entschieden werde. Für den Eingang eines Schreibens bei Gericht sei nicht erforderlich, dass das Schreiben der richtigen Akte zugeordnet werde oder dass es der Geschäftsstelle übergeben werde, sondern allein, dass es in den ...