Vorbem. 4 Abs. 1, Nr. 4301 VV RVG
Leitsatz
Durch die Beiordnung eines Rechtsanwalts als Verteidiger für die Wahrnehmung eines Termins wird ein eigenständiges, vollumfängliches öffentlich-rechtliches Beiordnungsverhältnis begründet, aufgrund dessen der bestellte Verteidiger während der Dauer seiner Bestellung die Verteidigung des Angeklagten umfassend und eigenverantwortlich wahrzunehmen hat. Daraus folgt, dass der Rechtsanwalt alle Gebühren eines Verteidigers nach Teil 4 Abschnitt 1 VV geltend machen kann.
OLG Koblenz, Beschl. v. 4.7.2024 – 2 Ws 412/24
I. Sachverhalt
Das AG hat gegen den Beschuldigten Haftbefehl wegen des dringenden Tatverdachts des gewerbs- und bandenmäßigen Betruges erlassen. Der Beschuldigte wurde am 21.12.2022 vorläufig festgenommen und noch am selben Tag dem Ermittlungs- und Haftrichter beim AG vorgeführt. Rechtsanwalt R 1, den der Beschuldigte bei seiner vorläufigen Festnahme gegenüber der Polizei als Verteidiger benannt hatte, von welchem er gerne vertreten werden möchte, wurde über die Verhaftung informiert. Er sagte daraufhin telefonisch zu, die Verteidigung zu übernehmen, konnte aber an dem Vorführtermin am 21.12.2022 aufgrund von Terminkollisionen nicht teilnehmen. Aus diesem Grund ordnete das AG in dem Vorführtermin am 21.12.2022 dem Beschuldigten – mit dessen Einverständnis – Rechtsanwalt R 2 "für den heutigen Termin" als Pflichtverteidiger bei. Im Rahmen des Vorführtermins hielt das AG den Haftbefehl aufrecht und setzte diesen in Vollzug. Im weiteren Verlauf des Strafverfahrens nahm Rechtsanwalt R 2 keine weiteren Verfahrenshandlungen mehr für den Beschuldigten vor.
Rechtsanwalt R 2 hat die Festsetzung seiner Pflichtverteidigergebühren beantragt, und zwar die Gebühren Nrn. 4101, 4105, 4103 und Nr. 4142 VV sowie Auslagen und Umsatzsteuer. Das AG hat nur eine Gebühr für eine Einzeltätigkeit nach der Nr. 4301 Nr. 4 VV nebst Auslagenpauschale und Umsatzsteuer festgesetzt. Dagegen hat Rechtsanwalt R 2 Rechtsmittel eingelegt, das beim LG weitgehend Erfolg hatte. Das hat nämlich – bis auf die Auslagenpauschale – alle angemeldeten Gebühren festgesetzt (LG Bad Kreuznach, Beschl. v. 21.5.2024 – 2 Qs 14/24, AGS 2024, 271). Die dagegen gerichtete – zugelassene – weitere Beschwerde der Staatskasse hatte beim OLG keinen Erfolg.
II. "Voller" Verteidiger
Nach Auffassung des OLG ist die die angefochtene Entscheidung des LG nicht zu beanstanden.
1. Bindender Beiordnungsbeschluss
Im Ansatz zutreffend gehe die Bezirksrevisorin in ihrem Beschwerdevorbringen davon aus, dass maßgebend für das Kostenfestsetzungsverfahren der insofern bindende Beiordnungsbeschluss sei (BGH, Beschl. v. 11.4.2018 – XII ZB 487/17, NJW 2018, 2047; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 9.5.2018 – III-1 Ws 274/17, AGS 2019, 508; OLG Koblenz, Beschl. v. 26.1.2015 – 13 WF 67/15, AGS 2015, 141). Für die Abgrenzung zwischen einem "Vollverteidiger" und einem mit einer Einzeltätigkeit beauftragten Rechtsanwalt sei gem. § 48 Abs. 1 RVG der Wortlaut der Verfügung des Vorsitzenden oder des Gerichtsbeschlusses maßgebend, durch den die Bestellung zum Pflichtverteidiger erfolgt sei (OLG Stuttgart, Beschl. v. 23.1.2023 – 4 Ws 13/23, AGS 2023, 162). Dem Wortlaut des hier vorliegenden Beiordnungsbeschlusses vom 21.12.2022 sei eine Beiordnung "für den heutigen Termin", mithin die Vorführung vor den Haftrichter gem. § 115 StPO, zu entnehmen. Damit enthalte der Beschluss eine zeitliche Beschränkung auf den Termin der Vorführung. Ob eine solche Beschränkung im Hinblick auf § 143 StPO zulässig sei, könne aufgrund der Bindungswirkung des Beiordnungsbeschlusses für das Kostenfestsetzungsverfahren dahinstehen. Eine inhaltliche Beschränkung auf die Haftfrage sei dem Beschluss dagegen nicht zu entnehmen (vgl. auch OLG Karlsruhe, Beschl. v. 9.2.2023 – 2 Ws 13/23, AGS 2023, 164; a.A. für den – hier nicht vorliegenden – Fall eines schon beauftragten Wahlverteidigers: OLG Stuttgart, a.a.O.).
2. Angefallene anwaltliche Tätigkeiten
Demzufolge sei bei der Festsetzung der Gebühren von der für den Termin der Vorführung erforderlichen, tatsächlich angefallenen anwaltlichen Tätigkeit auszugehen, soweit sie sich im Rahmen dieses Beiordnungsbeschlusses halte. Dies sei jedenfalls dann, wenn wie vorliegend noch kein anderer Verteidiger bestellt ist, sondern ein solcher bloß die Bereitschaft zur Übernahme der Verteidigung erklärt habe, beim Vorführungstermin jedoch verhindert sei, nicht allein die Einzeltätigkeit nach Nr. 4301 VV. Nach Vorbem. 4.3 VV entstehen die Gebühren für einzelne Tätigkeiten, ohne dass dem Rechtsanwalt sonst die Verteidigung oder Vertretung übertragen ist. Der Verteidiger sei hier jedoch nicht nur "für den Termin" mit einer einzelnen Tätigkeit i.S.d. Vorbem. 4.3 Abs. 1 VV beauftragt, sondern ihm sei vielmehr eine Vollverteidigung übertragen worden. Die Tätigkeit im Rahmen des Vorführtermins erschöpfe sich nämlich nicht alleine in der insofern in Betracht zu ziehenden Betätigung nach Nr. 4301 Nr. 4 VV (Beistandsleistung für den Beschuldigten im Rahmen einer richterlichen Vernehmung). Die richterliche Vernehmun...