§ 46 Abs. 1 OWiG; § 464a Abs. 2 Nr. 2 StPO
Leitsatz
Die Kosten eines privat eingeholten Sachverständigengutachtens sind ausnahmsweise u.a. dann als erstattungsfähig anzusehen, wenn das Gutachten ein abgelegenes und technisch schwieriges Sachgebiet betrifft. Das ist bei einem anthropologischen Gutachten nicht der Fall.
LG Essen, Beschl. v. 19.7.2021 – 27 Qs 35/21
I. Sachverhalt
Gegen die Betroffene war ein Bußgeldverfahren wegen einer angeblichen Unterschreitung des gebotenen Abstandes zum vorausfahrenden Fahrzeug anhängig. Deswegen erging ein Bußgeldbescheid, gegen den der Verteidiger des Betroffenen Einspruch einlegte. Vor der vom AG anberaumten Hauptverhandlung teilte der Verteidiger dem Gericht mit, dass bestritten werde, dass es sich bei der Betroffenen um den Fahrer des Pkws handele. Er reichte ein zuvor eingeholtes anthropologisches Privatgutachten ein. Der Verteidiger beantragte zudem, das Verfahren gegen die Betroffene einzustellen. Das AG stellte das Verfahren ein und legte sowohl die Kosten des Verfahrens als auch die der Betroffenen entstandenen notwendigen Auslagen der Staatskasse auf.
Im Kostenfestsetzungsverfahren wird dann um die Erstattung der Kosten für das außergerichtlich eingeholte Sachverständigengutachten i.H.v. insgesamt 269,48 EUR gestritten. Die Bezirksrevisorin hat die als nicht notwendig angesehen. Das Gericht sei insoweit von Amts wegen dazu verpflichtet, entsprechende Feststellungen zur treffen. Die Rechtspflegerin hat die Kosten nicht festgesetzt. Dagegen hat der Rechtsanwalt Rechtsmittel eingelegt, das keinen Erfolg hatte.
II. Grundsatz
Das LG hat die Kosten des Sachverständigengutachtens als nicht erstattungsfähig angesehen. I.S.d. § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 464a Abs. 2 Nr. 2 StPO seien unter notwendigen Auslagen die einem Beteiligten erwachsenen, Aufwendungen für private Ermittlungen oder Beweiserhebungen in der Regel nicht als notwendige Auslagen anzusehen, weil Ermittlungsbehörden und Gericht von Amts wegen nach § 244 Abs. 2 StPO zur Sachaufklärung verpflichtet sind (LG Aachen, Beschl. v. 12.7.2018 – 66 Qs 31/18, RVGreport 2019, 71; LG Berlin, Beschl. v. 5.3.2018 – 534 Qs 21/18, VRS 133, 4). Die Interessen des Beschuldigten bzw. Betroffenen im Straf- bzw. Bußgeldverfahren seien durch die gesetzliche Verpflichtung der Ermittlungsbehörden und Gerichte zur umfassenden Sachaufklärung gewahrt, auf die die Verteidigung zudem durch die Stellung von Beweisanträgen und -anregungen Einfluss nehmen könne (§§ 163a Abs. 2, 219, 220, 244 Abs. 3 bis 6 StPO). Dies gelte auch für das Bußgeldverfahren, in welchem die Einflussmöglichkeiten des Betroffenen gegenüber denjenigen im Strafverfahren deutlich gemindert seien (§§ 55 Abs. 2 S. 2, 77 Abs. 2 OWiG). Demgegenüber handele sich aber auch insoweit um ein Amtsermittlungsverfahren, welches schon auf der Ebene der Ermittlungen auch auf alle dem Betroffenen günstigen Umstände zu erstrecken sei (§ 160 Abs. 2 StPO, § 46 Abs. 2 OWiG).
Von diesem Grundsatz der fehlenden Notwendigkeit der Einholung außergerichtlicher Gutachten im Bußgeldverfahren seien zwar Ausnahmen anerkannt, vorliegend aber nicht einschlägig. Abgesehen von der Konstellation, in der das Privatgutachten tatsächlich ursächlich für den Freispruch oder die Einstellung des Verfahrens geworden sei, würden die Kosten ausnahmsweise z.B. auch dann als erstattungsfähig angesehen, wenn es ein abgelegenes und technisch schwieriges Sachgebiet betreffe (LG Wuppertal, Beschl. v. 8.2.2018 – 26 Qs 214/17, RVGreport 2018, 223). Auch werde darauf abgestellt, ob die Behörden den Beweisanregungen oder -anträgen der Verteidigung nachkommen und ob ohne die private Ermittlung sich die Prozesslage des Betroffenen verschlechtern würde (vgl. KG, Beschl. v. 20.2.2012 – 1 Ws 72/09, RVGreport 2012, 429).
III. Erstattungsvoraussetzungen
Nach der Auffassung des Landgerichts Aachen (a.a.O.), welcher sich das LG angeschlossen hat, folge aus dem das Bußgeld- wie auch das Strafverfahren beherrschenden Grundsatz der Amtsermittlung, dass allein die Entlegenheit der Materie die Einholung eines Privatgutachtens grds. nicht erstattungsfähig mache. Anders als im Zivilprozess, in dem die Natur des Parteiprozesses ein (weiteres) Privatgutachten zur Herstellung von 'Waffengleichheit“ erforderlich machen könne, weil zum Beispiel dann, wenn die Gegenseite ihren Vortrag auf ein eigenes Privatgutachten stützen kann, der eigenen Substantiierungspflicht sonst nicht genügt werden könne, biete die Verpflichtung des Gerichts und nach dem Gesetz auch der Anklagebehörde zur umfassenden Sachaufklärung zunächst Gewähr für die umfassende Objektivität auch eines von Amts wegen beauftragten Gutachtens. Demzufolge könne die Einholung eines Privatgutachtens aus der maßgeblichen ex ante-Sicht nur dann notwendig sein, wenn objektivierbare Mängel vorliegen, die zur Einholung des Gutachtens drängen. Ex-ante notwendig und damit erstattungsfähig könne ein Privatgutachten sowohl zur Überprüfung eines Erstgutachtens wie auch sonst zur ergänzenden Aufklärung also nur sein, wenn die bisher geführten Ermittlungen unzureichend sei...