Teil 4 Abschnitt 3 VV RVG; Nr. 4302 VV RVG, §§ 140 ff. StPO
Leitsatz
Auch der Pflichtverteidiger, der nur für einen Tag bzw. Termin bestellt ist, ist für diesen begrenzten Zeitraum umfassend mit der Wahrnehmung der Verteidigerrechte und -pflichten betraut. Daher kommt auch angesichts der zeitlichen Begrenzung der Beiordnung eine gebührenrechtliche Einstufung der Tätigkeit als Einzeltätigkeit nicht in Betracht.
LG Magdeburg, Beschl. v. 16.7.2021 – 21 Qs 53/21 und 54/21
I. Sachverhalt
Der Verteidiger G. des Beschuldigten konnte in dem auf seinen Antrag anberaumten Termin zur mündlichen Verhandlung über den Erlass eines von der Staatsanwaltschaft beantragten Haftbefehls wegen Quarantäne nicht erscheinen. Das AG Wernigerode fasste daher im Rahmen des Termins, an dem ein Rechtsanwalt W. teilnahm, einen Beschluss des folgenden Inhalts: "Rechtsanwalt W. wird dem Beschuldigten für den heutigen Termin als Pflichtverteidiger beigeordnet." Das AG hat gegen den Beschuldigten dann den Haftbefehl erlassen."
Rechtsanwalt W. hat die Festsetzung der Pflichtverteidigergebühren beantragt. Er hat u.a. Grundgebühr, Verfahrensgebühr und Terminsgebühr geltend gemacht. Das AG hat nur die Terminsgebühr festgesetzt. Die dagegen gerichtete Erinnerung hatte beim AG Erfolg. Das AG hat die Pflichtverteidigergebühren antragsgemäß festgesetzt. Die dagegen gerichtete Beschwerde der Landeskasse hatte keinen Erfolg.
II. Keine Einzeltätigkeit
Nach Auffassung des LG war die auf den Termin, in dem der Haftbefehl erlassen worden ist, beschränkte Beiordnung zwar – nach dem seit 13.12.2019 geltenden neuen Recht der Pflichtverteidigung – rechtswidrig, weil die § 140 Abs. 1 Nr. 4 i.V.m. § 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 und § 143 StPO eine Pflichtverteidigerbestellung für das gesamte Verfahren vorsehen, die mit rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens oder durch Aufhebung mit gesondertem Beschluss ende. Dabei sehe § 143 Abs. 2 S. 4 StPO ausdrücklich für die Fälle des § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO vor, dass eine Aufhebung erfolgen solle, falls der Beschuldigte auf freien Fuß gesetzt werde, was hier nicht der Fall gewesen sei. Auch sei Rechtsanwalt W. nicht lediglich Terminsvertreter des verhinderten Rechtsanwalts G. gewesen, was eine zeitlich befristete Bestellung gerechtfertigt hätte. Denn Rechtsanwalt G. sei in der Sache noch nicht tätig und auch nicht beigeordnet worden, sodass der Beschuldigte bei dem Verhandlungstermin am 23.3.2021 noch keinen Verteidiger hatte. Jedoch sei der in Bezug auf die zeitliche Begrenzung der Beiordnung rechtswidrige Beschluss nicht mit der sofortigen Beschwerde gem. § 142 Abs. 7 StPO angefochten worden, sodass er mit seinem rechtswidrigen Inhalt Bestand hatte.
Dies ändert nach Auffassung des LG jedoch nichts daran, dass Rechtsanwalt W. die Gebühren eines Pflichtverteidigers vollumfänglich geltend machen könne. Denn auch der Pflichtverteidiger, der nur für einen Tag bzw. Termin bestellt sei, sei für diesen begrenzten Zeitraum umfassend mit der Wahrnehmung der Verteidigerrechte und -pflichten betraut. Daher komme auch angesichts der zeitlichen Begrenzung der Beiordnung eine gebührenrechtliche Einstufung der Tätigkeit als Einzeltätigkeit nach Nr. 4302 VV nicht in Betracht (vgl. LG Aachen, Beschl. v. 20.10.2020 – 60 Qs 47/20 m.w.N. für den Terminsvertreter).
III. Bedeutung für die Praxis
Die Entscheidung ist zutreffend. Das LG setzt mit der Entscheidung seine Rspr. zum alten Recht der Pflichtverteidigung fort (LG Magdeburg RVGreport 2018, 257 = StRR 5/2018, 24 = StraFo 2018, 314 = AGS 2018, 341). Das LG hat schon zum Rechtszustand vor Inkrafttreten des "Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung" v. 10.12.2019 (BGBl I, 2128) die zutreffende Auffassung vertreten, dass der für einen Haftprüfungstermin gem. § 141 Abs. 3 S. 4 StPO a.F. anstelle des Pflichtverteidigers beigeordnete Rechtsanwalt nicht nur Terminsvertreter i.e.S. ist, sondern Vollverteidiger und daher nicht nur die Terminsgebühr sondern auch Grundgebühr und Verfahrensgebühr zustehen (unzutreffend a.A. OLG Celle RVGreport 2019, 17 = StraFo 2018, 534 = JurBüro 2018, 580; LG Leipzig RVGreport 2019, 338 = StraFo 2019, 439). Das gilt für das neue Recht nach wie vor bzw. erst recht. Denn nach § 141 Abs. 1 StPO wird dem Beschuldigten ein "Pflichtverteidiger bestellt". Daher ist schon nach dem Wortlaut der Regelung keine Anwendung für Teil 4 Abschnitt 3 VV – Einzeltätigkeit (s.a. Burhoff/Volpert/Burhoff, RVG Straf- und Bußgeldsachen, 6. Aufl., 2021, Teil A Rn 1673 ff.). Das hat so auch das LG Aachen (a.a.O.) entschieden. Denn dort ist der Rechtsanwalt ebenfalls als Pflichtverteidiger bestellt worden und war – anders als das LG Magdeburg meint – nicht nur "Terminsvertreter" (zu den Gebühren des Terminsvertreters Burhoff/Volpert/Burhoff, RVG, Teil A Rn 2101 ff.).
Rechtsanwalt Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg
AGS 9/2021, S. 427 - 428