§ 1 Abs. 1 Nr. 3 BerHG; Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und 3 GG
Leitsatz
- Unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten stellt die Versagung von Beratungshilfe keinen Verstoß gegen das Gebot der Rechtswahrnehmungsgleichheit dar, wenn Bemittelte in vergleichbarer Weise ebenfalls nicht kostenpflichtig einen Anwalt beanspruchen würden.
- Für die Frage der Mutwilligkeit kommt es insbesondere darauf an, ob der dem Beratungsanliegen zugrundeliegende Sachverhalt schwierige Tatsachen- oder Rechtsfragen aufwirft und ob Rechtsuchende selbst über ausreichende Rechtskenntnisse verfügen.
- Keine zumutbare Selbsthilfemöglichkeit ist jedoch die pauschale Verweisung auf die Beratungspflicht der den Bescheid erlassenden Behörde.
BVerfG, stattgebender Kammerbeschl. v. 4.4.2022 – 1 BvR 1370/21
I. Sachverhalt
Der Rechtsuchende bezog Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Mit entsprechendem Bescheid wurde ihm die Leistungsbewilligung für den Zeitraum Juli bis Dezember 2020 endgültig festgesetzt. Der Begründung war u.a. zu entnehmen, dass eigentlich im Juni 2020 ein aus einer Betriebskostenabrechnung für das Jahr 2019 hervorgehendes Guthaben anzurechnen sei. Weil dies aber zu einem vollständigen Wegfall des Leistungsanspruchs in diesem Monat führen würde, werde das Guthaben als einmalige Einnahme zu gleichen Teilen auf sechs Monate aufgeteilt. Dies führe zu einer monatlichen Minderung i.H.v. 49,25 EUR von Juni bis November 2020. Da jedoch bereits Leistungen ohne Anrechnung dieses Guthabens erbracht worden seien, errechne sich eine Überzahlung. Mit weiterem Bescheid vom 8.4.2021 machte das Jobcenter eine Erstattungsforderung von insgesamt 331,82 EUR geltend. Der Rechtsuchende beantragte zur Erörterung dieser Frau und zur anwaltlichen Unterstützung Beratungshilfe. Dabei gab er Zweifel an der Richtigkeit bekannt und konnte bereits einige Punkte, die unstimmig bzw. unrichtig waren, konkret aufführen. Das Gericht wies den Antrag wegen Mutwilligkeit nach § 1 Abs. 1 Nr. 3 BerHG zurück. Die Berechnung der Leistungen beziehungsweise der Erstattungsbeträge seien einfach gelagerte Sachverhalte. Ein eventueller Widerspruch sei ohne anwaltliche Hilfe zu fertigen. Dem Beschwerdeführer gehe es um die pauschale Überprüfung von Behördenbescheiden auf ihre Richtigkeit. Es lägen keine Anzeichen für eine konkrete Rechtsbeeinträchtigung vor. Hiergegen wendete sich der Rechtsuchende mit seinem Rechtsmittel mit der Begründung, es lägen gerade keine einfachen Sachverhalte vor. Das Gericht half der Erinnerung nicht ab. Die Erinnerung wurde mit richterlichem Beschl. v. 21.4.2021 abgewiesen. Die vom Beschwerdeführer verfolgte Rechtsverfolgung sei mutwillig. Der Beschwerdeführer wünsche Beratungshilfe, um Leistungsbescheide des Jobcenters (…) pauschal auf ihre Richtigkeit überprüfen zu lassen. Er sei der Ansicht, dass es in den Bescheiden zu Fehlern gekommen sei, könne aber nicht konkret darlegen, um welche Fehler es sich handele. Auch habe er nicht vorgetragen, dass er sich selbst schriftlich oder durch Vorsprache beim Jobcenter um eine Aufklärung des Sachverhalts bemüht habe. Die von dem Beschwerdeführer erhobene Anhörungsrüge wurde abgewiesen. Das angerufene BVerfG gab nun dem Rechtsuchenden recht.
II. Rechtswahrnehmungsgleichheit – aber keine Besserstellung
Das BVerfG stellt klar, dass Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und 3 GG die Rechtswahrnehmungsgleichheit von Bemittelten und Unbemittelten bei der Durchsetzung ihrer Rechte auch im außergerichtlichen Bereich, somit auch im Hinblick auf die Beratungshilfe nach dem Beratungshilfegesetz gewährleiste. Das BVerfG geht trotz seiner positiven Entscheidung aber nicht davon aus, dass Beratungshilfe stets zu bewilligen sei. Indem die Verfassungsrichter den altbekannten Selbstzahlervergleich anführen und in diesem Zusammenhang auf eine Einzelfallprüfung abstellen und ausdrücklich eine pauschale Beurteilung ausschließen, folgen sie im Grunde der bisher einschlägigen Rspr. Danach sei eine Evidenzprüfung dahingehend anzustellen, ob der bemittelte Rechtsuchende vom Recht der aktiven Verfahrensbeteiligung in Form anwaltlicher Unterstützung für das Widerspruchsverfahren vernünftigerweise Gebrauch machen würde. Ein kostenbewusster Rechtsuchender werde dabei insbesondere prüfen, inwieweit er fremde Hilfe zur effektiven Ausübung seiner Verfahrensrechte brauche oder selbst dazu in der Lage sei. Beratungshilfe soll also nicht zu einer Besserstellung führen, sondern nur zu einer Angleichung. Folglich brauchen Unbemittelte nur solchen Bemittelten gleichgestellt zu werden, die bei ihrer Entscheidung für die Inanspruchnahme von Rechtsrat auch die hierdurch entstehenden Kosten berücksichtigen und vernünftig abwägen.
III. Versagung von Beratungshilfe unter diesem Aspekt legitim
Unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten stellt die Versagung von Beratungshilfe aufgrund dieses Selbstzahlervergleiches keinen Verstoß gegen das Gebot der Rechtswahrnehmungsgleichheit dar, wenn Bemittelte wegen ausreichender Selbsthilfemöglichkeiten die Inanspruchnahme anwaltlicher Hilfe vernünftigerweise nicht in Betracht ziehen würden. Ob...