Nr. 4204 VV RVG
Leitsatz
Im Gesamtstrafenverfahren nach § 460 StPO entsteht für den Verteidiger, der den Angeklagten bereits im Erkenntnisverfahren vertreten hat, nicht die Gebühr Nr. 4204 VV.
LG Bonn, Beschl. v. 31.8.2021 – 29 Qs 6/21
I. Sachverhalt
Der Rechtsanwalt war als Pflichtverteidiger des Angeklagten tätig. Das AG hat dann gem. § 460 StPO aus den Strafen aus Urteilen vom 7.3.2019 und vom 6.1.2020 eine nachträgliche Gesamtfreiheitsstrafe gebildet. Auf die gegen diesen Beschluss eingelegte sofortige Beschwerde hat das LG die Gesamtfreiheitsstrafe reduziert. Die Auslagen des Angeklagten für das Beschwerdeverfahren hat das LG der Staatskasse auferlegt.
Den Auslagenerstattungsanspruch für das Beschwerdeverfahren hat der Angeklagte an den Rechtsanwalt abgetreten. Dieser hat gestützt auf die Abtretung im eigenen Namen für seine Tätigkeit im Beschwerdeverfahren die Festsetzung der Gebühr Nr. 4205 VV zur Festsetzung gegen die Staatskasse angemeldet. Der Rechtspfleger hat den Kostenfestsetzungsantrag abgelehnt. Hiergegen richtet sich die sofortige Beschwerde. Das Rechtsmittel hatte beim LG keinen Erfolg.
II. Streitstand
1. Einzelrichter in LG Bonn 29 Qs 5/17
Ob für die Tätigkeit des Verteidigers im Verfahren der Bildung einer nachträglichen Gesamtstrafe nach § 460 StPO eine Gebühr Nr. 4204 VV oder – bei Mandanten, die nicht auf freiem Fuß sind – die Gebühr Nr. 4205 VV entsteht, ist umstritten. Eine solche Gebühr würde gem. Vorbem. 4.2. VV nochmals gesondert für das Beschwerdeverfahren entstehen, weshalb diese Gebühr aufgrund der Auslagenentscheidung zugunsten des Angeklagten gegen die Staatskasse festzusetzen wäre.
Das LG hat mit Beschl. v. 23.3.2017 (29 Qs 5/17, RVGreport 2017, 297) das Entstehen einer Gebühr Nr. 4204 VV und damit auch eine solche nach Nr. 4205 VV, die an Nr. 4204 VV anknüpft, verneint. Der Verteidiger erhalte für seine Tätigkeit im Verfahren der nachträglichen Gesamtstrafenbildung nach § 460 StPO keine Gebühren nach Teil 4 Abschnitt 2 VV ("Gebühren in der Strafvollstreckung"). Dies beruhe darauf, dass es sich bei dem Verfahren nach § 460 StPO um kein Verfahren in der Strafvollstreckung, sondern um Strafzumessung handele. In dem Verfahren nach § 460 StPO werde überhaupt erst das endgültige Straferkenntnis geschaffen, an das die Vollstreckung anknüpft. Da Strafzumessung zum Erkenntnisverfahren gehöre, habe der Einzelrichter daher entschieden, dass die Tätigkeit im Verfahren nach § 460 StPO auch vergütungsrechtlich dem Abgeltungsbereich des Erkenntnisverfahrens und daher Teil 4 Abschnitt 1 VV ("Gebühren des Verteidigers") unterfalle. Der Verteidiger könne nur die dort aufgeführten Gebühren abrechnen. Dieser Rechtsansicht hat sich nun die Kammer, auf die das Verfahren zur Entscheidung übertragen worden, auch in der Besetzung durch drei Berufsrichter angeschlossen, da die Gegenansicht nicht überzeuge.
2. Gegenansicht u.a. OLG Bamberg
Die Gegenansicht werde insbesondere vom OLG Bamberg (Beschl. v. 11.6.2019 – 1 Ws 265/19, RVGreport 2020, 63 = StRR 2/2020, 30 = JurBüro 2020, 23; so auch LG Osnabrück, Beschl. v. 2.6.2020 – 2 Qs 26/20, AGS 2020, 509 = RVGreport 2020, 346) vertreten. Dieses stütze seine Ansicht maßgeblich darauf, dass der Gesetzgeber das Verfahren der nachträglichen Gesamtstrafenbildung (§§ 460, 462 StPO) im 7. Buch 1. Abschnitt der StPO (§§ 449 ff. StPO) geregelt habe, welcher mit "Strafvollstreckung" überschrieben ist. Das OLG Bamberg meine, dass daher anzunehmen sei, dass der Gesetzgeber den Begriff der Strafvollstreckung i.S.d. Teils 4 Abschnitt 2 VV mit den §§ 449 ff. StPO gleichgesetzt habe. Dass der Gesetzgeber den Begriff der "Strafvollstreckung" nicht im streng strafrechtsdogmatischen Sinn, sondern als Verweis auf die §§ 449 ff. StPO verstanden habe, ergebe sich daraus, dass er in Nr. 4200 Ziff. 1 VV unter der Überschrift "Gebühren in der Strafvollstreckung" Vergütungen des Verteidigers in Verfahren regelt, die sich gerade nicht als Strafvollstreckung, sondern vielmehr als solche der Vollstreckung einer Maßregel darstellen.
III. Auffassung der Kammer
Für das LG ist die Ansicht des OLG Bamberg nicht zu überzeugend.
Dass Teil 4 Abschnitt 2 VV auf die Überschriften des 7. Buches 1. Abschnitt der StPO Bezug nehme, sei durch die Gesetzgebungsgeschichte nicht belegt. Dagegen spreche, dass im Jugendstrafrecht mit § 66 JGG eine dem § 460 StPO vergleichbare Norm existiere. Gem. dessen Abs. 1 sei dann, wenn die einheitliche Festsetzung von Maßnahmen oder Jugendstrafe (§ 31 JGG) unterblieben sei und die durch die rechtskräftige Entscheidung erkannten Rechtsfolgen noch nicht vollständig erledigt seien, durch den Richter eine solche Entscheidung nachträglich zu treffen. Ob auch in diesem Verfahren eine Gebühr nach Nr. 4204 VV wie in dem Verfahren der nachträglichen Gesamtstrafe nach § 460 StPO entstehe, werde – soweit ersichtlich – nicht diskutiert. Zumindest könnte dies – anders als bei § 460 StPO – nicht auf die systematische Stellung gestützt werden. Denn anders als § 460 StPO sei in dem – zeitlich erst später verabschiedeten – JGG zutreffend der § 66 JGG nicht ...