Nr. 5115 VV RVG
Leitsatz
Wartet der Verteidiger mit einer Tätigkeit, auf die der Verfahrensfortgang zwingend angewiesen ist, bis die Verfolgungsverjährung eingetreten war, führt er somit absichtlich die Verfolgungsverjährung herbei und kann deshalb nicht die Zusätzliche Gebühr Nr. 5115 VV geltend machen.
AG Freiburg, Beschl. v. 10.5.2023 – 76 OWi 48/23
I. Sachverhalt
Gegen die Betroffene wurde ein Ordnungswidrigkeitenverfahren wegen einer am 12.3.2022 begangenen Geschwindigkeitsüberschreitung geführt. Die Verwaltungsbehörde erließ deswegen am 8.7.2022 einen Bußgeldbescheid, der der Betroffenen am 13.7.2022 zugestellt wurde. Die Betroffene legte am 20.7.2022 durch ihren Verteidiger Einspruch ein, der bei der Behörde einging, aber nicht bearbeitet wurde. Die Behörde sandte am 6.9.2022 eine "Mahnung" an die Betroffene, auf die der Verteidiger am 13.9.2022 monierte, dass er Einspruch eingelegt habe. Die Behörde informierte den Verteidiger, am 15.9.2022, dass kein Einspruch eingegangen sei. Der Verteidiger übersandte am 15.2.2023 den beA-Ausdruck, der den Zugang des Einspruchs nachwies, mit dem Hinweis, die Sache sei verjährt. Hierauf hob die Behörde den Bußgeldbescheid auf.
Der Verteidiger begehrte in seinem Kostenfestsetzungsantrag auch die Zusätzliche Gebühr nach Nrn. 5115, 5101 VV. Diese hat die Verwaltungsbehörde nicht erstattet. Hiergegen richtet sich der Antrag der Betroffenen auf gerichtliche Entscheidung.
II. Rechtsmissbrauch
Nach Auffassung des AG liegen die grundsätzlichen Voraussetzungen für die Entstehung der Verfahrensgebühr Nr. 5115 VV vor, da der Verteidiger auf die Verjährung hingewiesen und damit zur Verhinderung der Hauptverhandlung beigetragen habe.
Hier sei es jedoch rechtsmissbräuchlich vom Verteidiger, die Befriedungsgebühr zu verlangen. Die Zusätzliche Gebühr nach Nrn. 5115, 5101 VV diene der Beschleunigung des Verfahrens. Sinn und Zweck der Befriedungsgebühr sei es, intensive und zeitaufwendige Tätigkeiten des Verteidigers, die zu einer Vermeidung der Hauptverhandlung und damit zum Verlust der Hauptverhandlungsgebühr geführt haben, gebührenrechtlich zu honorieren. Die Gebühr sei demnach ein Anreiz, sich trotz der Gebühreneinbuße dennoch um eine möglichst frühzeitige Erledigung des Verfahrens ohne Hauptverhandlung zu bemühen. Das Vorgehen der Verteidigung im vorliegenden Fall habe sich nicht nach diesen Grundsätzen gerichtet. Der Verteidiger habe mit seiner Tätigkeit gewartet, auf die das Verfahren vorliegend zwingend angewiesen gewesen sei, bis die Verfolgungsverjährung eingetreten war. Er habe somit absichtlich die Verfolgungsverjährung herbeigeführt. Dies führe die Intention der Befriedungsgebühr ad absurdum (ähnlich LG Bayreuth, Beschl. v. 13.10.2020 – 3 Qs 84/20, AGS 2021, 30).
Unschädlich sei, dass der Eintritt der Verfolgungsverjährung auch darin begründet liege, dass die Behörde den Einspruch ursprünglich nicht zur Kenntnis genommen habe. Dies sei zwar ein ursächlicher, aber nur ein mitursächlicher Faktor. Die Verfahrensverzögerung durch die Verteidigung sei letztlich ausschlaggebend gewesen.
III. Bedeutung für die Praxis
Die Entscheidung ist falsch.
1. Zunächst: Das AG vermengt bei seiner Argumentation gebührenrechtliche Aspekte und Fragen des Missbrauchs. Das ist aber unzulässig. Denn: Das AG stellt selbst fest, dass die Tätigkeit des Verteidigers zum Entstehen der Gebühr Nr. 5115 VV geführt hat. Ist das aber der Fall, dann ist diese Gebühr auch zu erstatten. Denn "Rechtsmissbrauch" liegt – entgegen der Auffassung des AG – nicht vor. Denn der Verteidiger ist nicht verpflichtet, alles zu tun, um dem Verfahren so Fortgang zu geben, damit nicht Verfolgungsverjährung eintritt. Man mag darum streiten, ob der Verteidiger den Verfahrensfortgang aktiv verhindern darf und ob er sich, wenn er es tut, wegen Strafvereitelung (§ 258 StGB) strafbar macht. Das spielt hier indes schon deshalb keine Rolle, weil wir es nicht mit einem Straf- sondern nur mit einem Bußgeldverfahren zu tun haben. Zudem steht der Überlegung entgegen, dass der Verteidiger hier nicht aktiv tätig geworden hat, sondern nur abgewartet hat, bis Verfolgungsverjährung eingetreten war. Das ist aber ein zulässiges Verteidigungsverhalten.
2. Zudem: Wenn es die Verwaltungsbehörde nach dem Hinweis des Verteidigers auf den von ihm eingelegten Einspruch gegen den Bußgeldbescheid nicht schafft, dessen Verbleib zu klären und dem Verfahren durch Abgabe an des AG so rechtzeitig Fortgang zu geben, dass keine Verjährung eintritt, ist das nicht dem Verteidiger bzw. der Betroffenen anzulasten, indem man die Zusätzliche Gebühr Nr. 5115 VV nicht gewährt. Und das dann auch noch mit dem in meinen Augen lächerlichen Argument, der Verteidiger habe dem Verfahren Fortgang geben müssen. Wo bitte steht das in der StPO, dem OWiG, der BRAO und/oder dem RVG? In dem Zusammenhang ist es schließlich auch falsch, wenn das AG den Beitrag der Verwaltungsbehörde am Verjährungseintritt mit dem Hinweis "nur mitursächlich" abtun will. Denn das ist nicht der Fall, da das "Nichtstun" der Verwaltungsbehörde alleinige Ursache für den Verjährungseint...