Die zulässige Erinnerung ist begründet.
Es entspricht der hiesigen Spruchrichterpraxis, dass Gesprächsinhalte, tatsächliche Feststellungen, Veränderungen pp. betreffend Staatsanwaltschaft, Verteidigung, Polizei, Zeugen pp. nicht chronologisch, sondern jeweils konkret und auch nachträglich an der Stelle in der Akte vermerkt werden, wo sie relevant sind, mithin in der gesamten Akte stehen können – also insbesondere auch auf Rückseiten. Insofern können Kopien bestimmter Schriftstücke wie Anklageschriften, Verteidigerschriftsätze etc. oder der Aktendeckel auch nicht pauschal als nicht erstattungsfähig angesehen werden. Gleiches gilt für Beiakten, wie der vorliegende Sonderband Abstammungsverfahren, das der allein bereits aufgrund des Tatvorwurfes von besonderer Bedeutung gewesen ist. Schließlich wurde dem Angeklagten mit der Anklage ein betrügerisches Verhalten in dem der Strafakte als Sonderband beigefügten "Abstammungsverfahren" vorgeworfen. Insoweit erachtet das erkennende Gericht die Wichtigkeit des Sonderbandes für die Verteidigung als offensichtlich.
Daher ist ein vollständiges Kopieren des gesamten Akteninhaltes als gerechtfertigt anzuerkennen und im Rahmen einer ordnungsgemäßen Strafverteidigung auch geboten (vgl. Gerold/Schmidt, RVG, 22. Aufl., 7000 VV Rn 60 m.w.N.).
Es ist einem Strafverteidiger auch nicht zuzumuten, die Akte bereits bei Erhalt durchzuarbeiten, nur um entscheiden zu können, welche Schriftstücke möglicherweise noch relevant für das weitere Verfahren sein könnten, zumal sich diese Frage in einem frühen Verfahrensstadium, in dem oftmals auch noch keine Besprechung mit dem Mandanten stattgefunden hat, nicht ohne Weiteres beurteilen lässt. Die im bisherigen Verfahrensgang vertretene Rechtsauffassung führt für den Anwalt zu einer nicht vertretbaren Mehrarbeit, die vollkommen ineffektiv ist und die dem im Strafverfahren gebotenen Beschleunigungsgrundsatz zuwiderläuft. Dem Verteidiger wird bei Akteneinsicht regelmäßig aufgegeben, die Akte binnen drei Tagen zurückzusenden. Dies lässt – wenn überhaupt – nur eine grobe Sichtung der Akte zu. Viele Strafverteidiger haben jedoch aufgrund ständiger (Auswärts-)Termine überhaupt nicht die Möglichkeit, die Akten bei Eingang durchzusehen. Sie – und damit auch das Gericht – sind für eine zügige Rücksendung darauf angewiesen, dass die Akten vom Kanzleipersonal eigenständig kopiert werden. Die Prüfung im Einzelfall, welche Seiten tatsächlich benötigt werden, lässt sich aber nicht vorab vom Verteidiger auf seine Mitarbeiter übertragen. Zumal eine solche Prüfung im Regelfall dem Verteidiger nicht abschließend möglich sein wird. Häufig offenbart erst der Termin zur mündlichen Hauptverhandlung, welche Akteninhalte für den Verfahrensfortgang von entscheidender Wichtigkeit sein dürften.
Etwas anderes gilt nur, wenn, was hier nicht gegeben ist, umfangreiche Fallakten, Fremdakten, Beiakten oder Sonderbände vorliegen, die den vertretenen Angeklagten nicht sofort klar erkennbar betreffen, Abgrenzungen zu anderen Angeklagten vorzunehmen sind oder augenscheinlich ohne Relevanz sind. Als Beispiel wären Abhörprotokolle zu nennen, die einen gesondert verfolgten Angeklagten betreffen. Diese bedürfen der vorläufigen groben Sichtung durch den Pflichtverteidiger mit der Bestimmung dessen, was zu kopieren ist. Auch dabei ist ein großzügiger Maßstab anzulegen, um eine sachgerechte Verteidigung zu gewährleisten. Zu berücksichtigen gilt auch hier erneut, dass im Strafverfahren der gesteigerte Beschleunigungsgrundsatz gilt. Das Kopieren des vorliegenden Sonderbandes Abstammungsverfahren diente dabei ersichtlich der sachgerechten Interessenwahrnehmung aus Verteidigersicht. Schließlich lassen sich diesem die der Anklage zugrunde liegenden Tatsachen entnehmen.
Der Pflichtverteidiger hat schließlich die tatsächlich von ihm angefertigten Kopien als Anlagenkonvolut zum Erinnerungsschreiben dem Gericht vorgelegt. Dies genügt, wie bereits durch den Bezirksrevisor in seiner Stellungnahme vom 26.7.2016 festgestellt, zur Glaubhaftmachung.
entnommen von www.burhoff.de
AGS 11/2016, S. 512 - 513