§§ 45, 48 RVG
Leitsatz
Wird die Pflichtverteidigerbestellung rückwirkend aufgehoben, entfällt damit ein Vergütungsanspruch des Verteidigers.
AG Amberg, Beschl. v. 12.10.2022 – 6 Gs 398/21
I. Sachverhalt
Der Rechtsanwalt war Verteidiger des Beschuldigten in dem Verfahren mit dem Vorwurf des Verbreitens jugendpornographischer Schriften. Er erhielt am 17.2.2021 Akteneinsicht (in einen Sonderband). Mit Schriftsatz vom 19.2.2021 beantragte der Verteidiger die Einstellung des Verfahrens nach § 170 Abs. 2 StPO. Mit Schriftsatz vom 23.2.2021 beantragte der Verteidiger seine Beiordnung als Pflichtverteidiger. Die Staatsanwaltschaft stellte mit Verfügung vom 3.3.2021 das Verfahren gem. § 170 Abs. 2 StPO ein. Mit Beschl. v. 8.3.2021 hat das AG entgegen der Stellungnahme der Staatsanwaltschaft dem Beschuldigten den Rechtsanwalt als Pflichtverteidiger bestellt. Aus den Gründen des Bestellungsbeschlusses ist ersichtlich, dass dies zur Wahrnehmung des Akteneinsichtsrechts erfolgte. Das LG hat auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft die Pflichtverteidigerbestellung mit Beschl. v. 8.4.2022 aufgehoben.
Der Rechtsanwalt hat die Festsetzung seiner Vergütung beantragt. Die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle hat den Antrag zurückgewiesen. Die dagegen gerichtete Erinnerung des Rechtsanwalts hatte beim AG keinen Erfolg.
II. Rückwirkende Aufhebung = rückwirkendes Entfallen des Gebührenanspruchs
Nach Auffassung des AG ist ein Vergütungsanspruch nicht entstanden, da das LG mit Beschl. v. 8.4.2022 die Pflichtverteidigerbestellung aufgehoben habe. In dem Beschluss habe das LG zur Begründung u.a. ausgeführt, dass eine nachträgliche, rückwirkende Bestellung für ein abgeschlossenes Verfahren oder einen abgeschlossenen Instanzenzug unzulässig sei, und zwar auch dann, wenn der Beiordnungsantrag rechtzeitig gestellt worden sei und in der Sache hätte Erfolg haben können. Denn die Bestellung des Pflichtverteidigers diene nicht dem Kosteninteresse des Betroffenen oder seines Verteidigers, sondern verfolge allein den Zweck, im öffentlichen Interesse dafür zu sorgen, dass ein Betroffener in schwerwiegenden Fällen rechtskundigen Beistand erhalte und der ordnungsgemäße Verfahrensverlauf gewährleistet sei.
Wie in dem Aufhebungsbeschluss des LG ausführlich erläutert worden sei, würde die Bestellung eines Pflichtverteidigers genau zu dem vom LG dargestellten Effekt führen, dass die Verteidigung in vorliegendem Verfahren zwar zu jeder Zeit gesichert war und durch die nachträgliche Beiordnung lediglich noch das Kosteninteresse des Beschuldigten bzw. des Verteidigers befriedigt würde. Aus den Ausführungen des LG gehe hervor, dass genau diese Wirkung durch das LG nicht gewollt sei. Die Begründung des Aufhebungsbeschlusses des LG könne nur so aufgefasst und ausgelegt werden, dass damit die Bestellung des Pflichtverteidigers rückwirkend aufgehoben sein sollte, da eine Beiordnung zum damaligen Zeitpunkt nicht mehr erforderlich war.
Auch der vom Verteidiger herangezogene Beschl. des LG Kaiserslautern v. 11.1.2019 (4 Ks 6034 Js 10590/16, RVGreport 2019, 135 = StRR 4/2019, 119) gehe davon aus, dass eine rückwirkende Aufhebung möglich ist. I.Ü. sei aus der Entscheidung des LG Kaiserslautern nicht ersichtlich, dass dort der gleiche Sachverhalt zugrunde lag, nämlich Bestellung des Pflichtverteidigers erst nach Abschluss des Verfahrens.
III. Kein Widerspruch zum Rechtsgedanken des § 15 Abs. 4 RVG
Die rückwirkende Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung widerspreche auch nicht dem Rechtsgedanken des § 15 Abs. 4 RVG. Diese Vorschrift regelt, dass es ohne Einfluss auf bereits entstandene Gebühren ist, wenn sich die Angelegenheit vorzeitig erledigt oder der Auftrag endigt, bevor die Angelegenheit erledigt ist. Der rückwirkende Wegfall der Pflichtverteidigerbestellung führt nach Auffassung des AG nicht zum Erlöschen der bereits entstandenen Gebühren, sondern habe hierauf keinerlei Einfluss. Allerdings führe der rückwirkende Wegfall der Pflichtverteidigerbestellung zum Erlöschen des Erstattungsanspruchs gegen die Staatskasse. Eine Bearbeitung für den Staat zum "Nulltarif" werde nicht erwartet, jedoch sei in vorliegendem Fall zeitlich nach der Bestellung keine Tätigkeit mehr entfaltet worden. Eine Bestellung zur Sicherung der Verteidigung sei nicht mehr erforderlich gewesen, weil das Verfahren bereits vor der Bestellung eingestellt worden sei. Die zum Zeitpunkt der Bestellung beim Verteidiger bereits entstandenen Gebühren und Auslagen seien nicht erloschen, sondern könnten weiterhin bei seinem Auftraggeber geltend gemacht werden.
IV. Bedeutung für die Praxis
Eine wortreiche Begründung des AG, aber m.E. leider falsch.
1. Keine Rückwirkung der Aufhebung der Bestellung
Das AG vermengt unzulässig, die sich mit der Problematik der Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung eines Rechtsanwalts als Pflichtverteidiger ergebenden Fragen mit den gebührenrechtlichen Auswirkungen der Aufhebung einer (rückwirkend erfolgten) Pflichtverteidigerbestellung. Zutreffend ist es, wenn man davon ausgeht, dass die Pflichtverteidigerbestellung aufgehoben werden kann, aber: Diese Aufhebung hat aber – auch materiell-rechtlich – keine Rückwirkung. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus de...