RVG § 48 Abs. 6
Leitsatz
- Die Vorschrift des § 48 Abs. 6 S. 3 RVG gilt für alle Fälle der Verfahrensverbindung, unabhängig davon, ob die Beiordnung als Pflichtverteidiger vor oder nach der Verbindung erfolgt ist.
- Eine Erstreckung der Beiordnung nach § 48 Abs. 6 S. 3 RVG setzt nicht zwingend voraus, dass vor der Verbindung bereits ein Antrag auf Beiordnung als Pflichtverteidiger in dem hinzuverbundenen Verfahren gestellt wurde.
OLG Celle, Beschl. v. 4.9.2019 – 2 Ws 253/19
1 Sachverhalt
Die Staatsanwaltschaft führte gegen den Angeklagten ursprünglich zwei Ermittlungsverfahren, und zwar das Verfahren 3103 Js 19257/18 wegen des Verdachts des versuchten besonders schweren Raubes sowie das Verfahren 3103 Js 20366/18 wegen des Verdachts des besonders schweren Raubes. Am 14.1.2019 legitimierte sich der Beschwerdeführer gegenüber der Staatsanwaltschaft als Verteidiger zu beiden Verfahren und beantragte jeweils Akteneinsicht, die auch gewährt wurde.
Am 1.2.2019 erfolgte die Verbindung des Verfahrens 3103 Js 19257/18 zu dem führenden Verfahren 3103 Js 20366/18 durch die Staatsanwaltschaft. Am 29.3.2019 erhob die Staatsanwaltschaft Anklage wegen versuchten besonders schweren Raubes (§§ 249, 250 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2, 22, 23 StGB) und besonders schweren Raubes (§§ 249, 250 Abs. 1 Nr. 1a, Abs. 2 StGB) in Tatmehrheit. Zugleich wurde der Erlass eines Haftbefehls gegen den Angeklagten beantragt.
Am 8.4.2019 erließ das LG den beantragten Haftbefehl nach Maßgabe der Anklageschrift und stellte die Anklage zu. Auf den Antrag des Verteidigers vom 11.4.2019 wurde dieser mit Beschl. v. 15.4.2019 zum Pflichtverteidiger des Angeklagten bestellt.
Nach Durchführung der Hauptverhandlung und (nicht rechtskräftiger) Verurteilung des Angeklagten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren stellte der Verteidiger einen Kostenfestsetzungsantrag, in dem er u.a. zweimal die Grundgebühr nach Nr. 4101 VV sowie zweimal die Verfahrensgebühr nach Nr. 4105 VV beanspruchte. Mit Kostenfestsetzungsbeschluss des LG erfolgte nur eine Teilfestsetzung; nicht festgesetzt wurden die geltend gemachten Gebühren für die Tätigkeiten im hinzuverbundenen Verfahren vor der Verbindung. Im Kostenfestsetzungsbeschluss ist hierzu ausgeführt, dass eine Vergütung für die Tätigkeiten im hinzuverbundenen Verfahren nicht erfolgen könne, da bei Verbindungen von Verfahren für jedes Verfahren gesondert eine Beiordnung erfolgen müsse.
Daraufhin beantragte der Verteidiger gegenüber der Kammer die Anordnung der Erstreckung der Beiordnung auf das bereits durch die Staatsanwaltschaft verbundene Verfahren.
Nach Einholung einer Stellungnahme des Bezirksrevisors hat die Vorsitzende der Kammer mit dem angefochtenen Beschluss den Antrag abgelehnt und zur Begründung ausgeführt, dass sich die Frage einer Entscheidung über die Erstreckung nur stelle, wenn zu einem Verfahren, in dem der Verteidiger bereits beigeordnet sei, weitere Verfahren, in denen bislang keine Beiordnung erfolgte, hinzuverbunden würden. Dieser Fall liege nicht vor, da die Verfahren bereits vor der Beiordnung verbunden gewesen seien.
Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Verteidigers, der das LG nicht abgeholfen hat.
2 Aus den Gründen
II. Die Beschwerde ist gem. § 304 Abs. 1 StPO zulässig.
Gegen die Ablehnung der Erstreckung der Wirkungen der Pflichtverteidigerbestellung nach § 48 Abs. 6 S. 3 RVG sieht das RVG keinen besonderen Rechtsbehelf vor. Wird der Erstreckungsantrag abgelehnt, kann der Rechtsanwalt dagegen aus eigenem Recht Beschwerde einlegen (KG StraFo 2012, 292; Gerold/Schmidt/Burhoff, 23. Aufl., 2017, RVG § 48 Rn 211). Für die Anfechtung des die Erstreckung ablehnenden Beschlusses gelten die allgemeinen Regeln (KG, a.a.O.; Gerold/Schmidt/Burhoff, a.a.O.).
III. Die Beschwerde erweist sich auch als begründet.
1. Der angefochtene Beschluss ist bereits deshalb aufzuheben, weil die Vorsitzende der Strafkammer für die getroffene Entscheidung funktionell nicht zuständig war. Jedoch führt diese (versehentliche) Verletzung der gesetzlichen Zuständigkeitsregelung nicht zu einer Zurückverweisung der Sache an das LG, sondern kann der Senat in der Sache selbst entscheiden.
Nach § 48 Abs. 6 S. 3 RVG kann das Gericht bei der Verbindung von Verfahren die Wirkungen des Satzes 1 auf diejenigen Verfahren erstrecken, in denen vor der Verbindung keine Beiordnung oder Bestellung erfolgt war. Nach dem Wortlaut des § 48 Abs. 6 S. 3 RVG obliegt die Entscheidung über die Erstreckung der Wirkungen der Pflichtverteidigerbestellung danach nicht dem Vorsitzenden, auch wenn dieser über die Bestellung des Pflichtverteidigers allein zu entscheiden hat (§ 141 Abs. 4 StPO), sondern dem Gericht. Die Entscheidung über die Erstreckung der Wirkungen der Pflichtverteidigerbestellung knüpft an die Verbindung von Verfahren an, über die ebenfalls das Gericht zu entscheiden hat (§ 4 Abs. 1 StPO). In der Sache geht es hierbei nicht um die Pflichtverteidigerbestellung als solche, die ohnehin nicht rückwirkend erfolgen kann (vgl. BGH StV 1988, 378; OLG Düsseldorf StraFo 2003, 94; KG StraFo 2006, 200), so...