1. Ungekürzte Anrechnung war umstritten

Das SG hat sich leider nicht mit der Frage auseinandergesetzt, dass die Rspr. des BGH höchst umstritten war. Gegenteilig entschieden hatte das OLG Koblenz (AGS 2009, 167). Auch die Verwaltungsgerichtsbarkeit war anders verfahren (OVG NRW AGS 2017, 497). Danach war bereits nach altem Recht eine Kürzung vorzunehmen. In analoger Anwendung des § 15 Abs. 3 RVG durfte nicht mehr angerechnet werden als eine Gebühr nach dem höchsten anzurechnenden Satz aus dem Gesamtwert. Auf Rahmengebühren übertragen bedeutete dies, dass nicht mehr angerechnet werden durfte als die Höchstgrenze der Vorbem. 3 Abs. 4 S. 2 VV i.H.v. (damals) 175,00 EUR.

2. Rechtslage durch KostRÄG 2021 geklärt

Zwischenzeitlich ist der Fall geklärt. Durch den neuen § 15a Abs. 2 RVG (eingeführt zum 1.1.2021 durch das KostRÄG 2021 ist jetzt klargestellt, dass bei Anrechnung mehrerer Gebühren nicht mehr angerechnet werden darf als eine Gebühr nach dem höchsten Anrechnungssatz aus dem Gesamtwert (Wertgebühren) und bei Betragsrahmengebühren nicht mehr als der Höchstbetrag der Vorbem. 3 Abs. 4 S. 2 VV RVG i.H.v. (jetzt) 207,00 EUR.

 

Beispiel

Der Anwalt wird in einer sozialrechtlichen Angelegenheit beauftragt, gegen den Bescheid der Sozialbehörde Widerspruch einzulegen. Später wird er beauftragt, gegen einen weiteren Bescheid Widerspruch einzulegen. Die Widerspruchsbehörde bescheidet beide Widersprüche zeitgleich. Daraufhin wird wegen beider Bescheide in Gestalt der Widerspruchsbescheide eine gemeinsame Anfechtungsklage zum Sozialgericht erhoben.

Ausgehend jeweils von der Schwellengebühr (Anm. zu Nr. 2302 VV) sowie der Mittelgebühr im gerichtlichen Verfahren ist wie folgt abzurechnen:

 
I. Erstes Widerspruchsverfahren    
1. Geschäftsgebühr, Nr. 2302 Nr. 1 VV   359,00 EUR
2. Postentgeltpauschale, Nr. 7002 VV   20,00 EUR
  Zwischensumme 379,00 EUR  
3. 19 % Umsatzsteuer, Nr. 7008 VV   72,01 EUR
  Gesamt   451,01 EUR
II. Zweites Widerspruchsverfahren    
1. Geschäftsgebühr, Nr. 2302 Nr. 1 VV   359,00 EUR
2. Postentgeltpauschale, Nr. 7002 VV   20,00 EUR
  Zwischensumme 379,00 EUR  
3. 19 % Umsatzsteuer, Nr. 7008 VV   72,01 EUR
  Gesamt   451,01 EUR
III. Verfahren vor dem Sozialgericht    
1. Verfahrensgebühr, Nr. 3102 VV   360,00 EUR
2. gem. Vorbem. 3 Abs. 4 S. 2 VV anzurechnen – 179,50 EUR  
3. gem. Vorbem. 3 Abs. 4 S. 2 VV anzurechnen – 179,50 EUR  
  gem. § 15a Abs. 2 RVG nicht mehr als   – 207,00 EUR
4. Terminsgebühr, Nr. 3106 VV   335,00 EUR
5. Postentgeltpauschale, Nr. 7002 VV   20,00 EUR
  Zwischensumme 508,00 EUR  
6. 19 % Umsatzsteuer, Nr. 7008 VV   96,52 EUR
  Gesamt   604,52 EUR

3. Änderung oder Klarstellung

Das SG hat darüber hinaus nicht problematisiert, ob es sich bei der Vorschrift des § 15a Abs. 2 RVG n.F. tatsächlich um eine neue Vorschrift handelt, sodass § 60 Abs. 1 RVG auf Altfälle anzuwenden sei, oder ob es sich nicht vielmehr nur um eine Klarstellung des Gesetzgebers handelt, der lediglich zum Ausdruck bringen wollte, was ohnehin schon immer gewollt war. Hierfür spricht die Begründung des Gesetzgebers, der sich mit der neuen gesetzlichen Regelung ausdrücklich gegen die Rspr. des BGH wendet.

Rechtsanwalt Norbert Schneider, Neunkirchen

AGS 12/2021, S. 550 - 551

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