§ 14 RVG
Leitsatz
- Zur Anwendung der zivilrechtlichen "Toleranzrechtsprechung" des BGH im Bußgeldverfahren.
- Nach Auffassung des Gerichts ist im Falle durchschnittlicher Verkehrsordnungswidrigkeiten grundsätzlich die sogenannte herabgesetzte Mittelgebühr anzusetzen.
AG Bad Salzungen, Urt. v. 30.9.2021 – 1 C 121/21
I. Sachverhalt
Die Klägerin, eine Rechtsanwältin, hatte die Beklagte in einem straßenverkehrsrechtlichen Bußgeldverfahren vertreten. Sie nimmt ihren Mandanten auf restliche Gebühren i.H.v. 188,79 EUR in Anspruch. Dieser bzw. seine Rechtsschutzversicherung hatte eine Gebührenrechnung der Klägerin nur teilweise ausgeglichen. Die Rechtsanwältin hatte jeweils die Mittelgebühr zugrunde gelegt. Sie ist nicht gezahlt worden. Die Gebührenklage hatte keinen Erfolg.
II. Anwendung der "Toleranzrechtsprechung"
Nach Auffassung des AG war die Klägerin im Rahmen der Gebührenbestimmung gem. § 14 RVG nicht zum Ansatz der Mittelgebühren berechtigt. Der Ansatz der Klägerin sei mithin unbillig und damit unverbindlich; zutreffend habe die Rechtsschutzversicherung der Beklagten lediglich unterhalb der Mittelgebühr liegende Gebühren angesetzt. Zu Recht gehe die Beklagte davon aus, dass bezüglich der Gebühren Nr. 5100 VV nur 75,00 EUR, Nr. 5103 VV nur 125,00 EUR, Nr. 5109 VV 125,00 EUR und hinsichtlich der Gebühr Nr. 5110 VV 200,00 EUR seitens der Klägerin beansprucht werden könne. Der von Klägerin gewählte Gebührenansatz sei unbillig und damit gem. § 315 BGB unverbindlich gewesen.
Zwar sei der Klägerin zuzugestehen, dass sie sich bei Zugrundelegung der Entscheidung des BGH vom 31.10.2006 (VI ZR 261/05, NJW-RR 2007, 420 = AGS 2007, 28 = RVGreport 2007, 21) noch innerhalb des hieraus ergebenden Toleranzrahmens befinde, sodass, im Falle einer Vertretung dieser Auffassung auch durch das erkennende Gericht, der Gebührenansatz nicht gerichtlich überprüfbar wäre. Dies würde i.Ü. auch insofern gelten, wenn das Gericht den Entscheidungen des BGH vom 13.1.2011 (IX ZR 110/10, AGS 2011, 120 = RVGreport 2011, 136) bzw. vom 8.5.2012 (VI ZR 273/11, AGS 2012, 220 = RVGreport 2012, 258) folgen wolle. Dies sei indes nicht der Fall. Vielmehr schließe sich das erkennende Gericht der Rspr. des VIII. Zivilsenats des BGH an. Dieser habe am 11.7.2012 (VIII ZR 323/11, AGS 2012, 373 = RVGreport 2012, 375) entschieden, dass eine Erhöhung der Geschäftsgebühr über die Regelgebühr von 1,3 hinaus nur dann gefordert werden könne, wenn die Tätigkeit des Rechtsanwalts umfangreich oder schwierig war, und deshalb nicht unter dem Aspekt der Toleranz-Rspr. bis zu einer Überschreitung vom 20 % der gerichtlichen Überprüfung entzogen sei. Nach alledem sei zur Überzeugung des erkennenden Gerichts auch der vorliegende Gebührenansatz einer gerichtlichen Überprüfung zugänglich.
III. Mittelgebühr
Hier sei aber der (jeweilige) Ansatz einer Mittelgebühr nicht gerechtfertigt. Die (Rahmen-)Gebühr sei gemäß § 14 RVG unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls vor allem anhand des Umfanges und der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit sowie der Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Auftraggebers zu ermitteln. Maßgeblich seien insbesondere die rechtlichen Schwierigkeiten und das Ausmaß der erforderlichen Sachaufklärung.
Nach Auffassung des AG ist im Falle durchschnittlicher Verkehrsordnungswidrigkeiten grds. die sog. herabgesetzte Mittelgebühr anzusetzen. Dies deshalb, weil durchschnittliche Verkehrsordnungswidrigkeiten typischerweise mit einfachen Sach- und Rechtsfragen, niedrigen Geldbußen und vergleichsweise wenigen Punkten im Zentralregister einhergehen. Vorliegend sei die Beklagte des Vorwurfs der Missachtung der Vorfahrt mit Unfallverursachung ausgesetzt, die ursprünglich mit einem Bußgeld von 120,00 EUR geahndet worden sei. Es habe ein Punkt im Fahreignungsregister gedroht, jedoch kein Fahrverbot. Es habe sich mithin um eine alltägliche Verkehrsordnungswidrigkeit gehandelt; zudem habe keine individuelle fahrerlaubnisrechtliche Situation vorgelegen. Auch i.Ü. sei eine besondere Bedeutung der Angelegenheit für die Beklagte nicht ersichtlich.
Die Klägerin habe zweimal Akteneinsicht genommen. Nachdem sich die Klägerin in Bezug auf den ersten im Ordnungswidrigkeitsverfahren angesetzten Termin vom 15.6.2020 aufgrund eines Staus verspätet hatte, sei der Beklagten Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand gewährt. Am 21.9.2020 sei das Verfahren gegen die Beklagte eingestellt worden. Diese stellten aus Sicht des AG Standardtätigkeiten dar. Der zugrunde liegende Sachverhalt sei wenig kompliziert, rechtliche Schwierigkeiten seien nicht ersichtlich. Vor diesem Hintergrund sei lediglich der Ansatz einer herabgesetzten Mittelgebühr gerechtfertigt gewesen.
IV. Bedeutung für die Praxis
Kreativ, aber m.E. falsch, und zwar in doppelter Hinsicht.
1. Anwendung der Toleranzgrenze
Die vom AG vertretene Ansicht, die Entscheidung des VIII. Zivilsenats des BGH vom 11.7.2012 (VIII ZR 323/11, AGS 2012, 373 = RVGreport 2012, 375) gebe die Möglichkeit, auch im sog. "20-%-Toleranzbereich" in die gem. § 14 Abs. 1 RVG vorgenommene Gebührenbemessung des Rechtsanwalts einzugreifen, ist falsch und wird – sowe...