§ 198 GVG
Leitsatz
Das beim Amtsgericht zu führende Verfahren zur Festsetzung erstinstanzlicher Pflichtverteidigerkosten kann eine i.S.v. § 198 GVG unangemessen lange Verfahrensdauer haben, wenn es vom zuständigen Urkundsbeamten grundsätzlich so betrieben wird, dass die Vergütungsfestsetzung bis zur Rücksendung der Akten aus der Rechtsmittelinstanz nicht abschließend bearbeitet wird, und während der Dauer der Aktenversendung auch eine Anfrage beim Rechtsmittelgericht unterbleibt, um die Akten für den kurzen Bearbeitungszeitraum einer Vergütungsfestsetzung zurück zu erlangen.
OLG Hamm, Urt. v. 8.9.2021 – 11 EK 11/20
I. Sachverhalt
Die klagende Rechtsanwältin verlangt wegen einer überlangen Verfahrensdauer für die Festsetzung von erstinstanzlich angefallenen Pflichtverteidigergebühren die Zahlung einer Geldentschädigung. Das AG hatte das am 18.6.2018 die Hauptverhandlung gegen den Angeklagten eröffnet und die Klägerin zur Pflichtverteidigerin bestellt. Der Angeklagte wurde am 30.4.2019 verurteilt. Am gleichen Tage beantragte die Klägerin die Festsetzung ihrer Pflichtverteidigergebühren. Am 7.5.2019 legte sie für den Angeklagten Rechtsmittel ein. Nachdem zunächst am 4.6.2019 der zuständige Richter die Übersendung der Akten an die Staatsanwaltschaft verfügt hatte, lag die Akte am 5.6.2019 der für die Festsetzung zuständigen Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle vor. Mit Verfügung von diesem Tage bat sie die Klägerin um Überprüfung ihrer Kostenrechnung und um Einreichung einer berichtigten Rechnung. Soweit in der Rechnung Kopierkosten geltend gemacht waren, bat sie um Einreichung der gefertigten Kopien. Ferner bat sie um Erläuterung von Abwesenheitszeiten und der für Fahrten angesetzten Kilometerzahl. Abschließend erteilte sie den Hinweis:
Zitat
"Ich weise Sie allerdings bereits jetzt darauf hin, dass die Bearbeitung des Antrags erst nach Aktenrückkehr aus der Berufungsinstanz erfolgen kann.""
Mit Schriftsatz vom 5.7.2019 erklärte die Klägerin, dass das eingelegte Rechtsmittel als Berufung geführt werden soll. Daraufhin übersandte die Staatsanwaltschaft am 11.7.2019 die Strafakten an das LG. Mit Verfügung vom 26.8.2019 regte die Berufungsrichterin nach bereits erfolgter Zustimmung der Staatsanwaltschaft gegenüber der Klägerin die Einstellung des Verfahrens gegen den Angeklagten an.
Mit Schriftsatz vom 20.9.2019 erläuterte die Klägerin gegenüber dem AG ihre Kostenrechnung und kündigte angesichts der voraussehbaren Bearbeitungszeit die Erhebung einer Verzögerungsrüge an. Am 23.9.2019 teilte die Urkundsbeamtin der Klägerin mit, dass die Bearbeitung des Vergütungsantrages erst nach Aktenrückkehr erfolgen könne. Mit Schriftsatz vom 21.10.2019 erklärte die Klägerin für den Angeklagten das Einverständnis mit dem Vorgehen gem. § 153a StPO. Das LG beschloss daraufhin die vorläufige Einstellung des Verfahrens und legte gegenüber dem Angeklagten die Auflagen fest.
Mit Schriftsatz vom 19.11.2019 erhob die Klägerin gegenüber dem AG bezüglich der Gebührenfestsetzung Verzögerungsrüge. Mit Verfügung vom 29.11.2019, ausgeführt am 13.1.2020, teilte die Urkundsbeamtin ihr daraufhin mit, sie müsse noch die von ihr berechneten Kopien im Original vorlegen, zudem bleibe es dabei, dass die weitere Bearbeitung des Kostenantrags erst nach Rückkehr der Akten erfolgen könne. Am 29.4.2020 stellte das LG das Strafverfahren nach Erfüllung der Auflagen durch den Angeklagten ein. Unter dem 20.5.2020 erhob die Klägerin beim AG erneut Verzögerungsrüge. Am 3.6.2020 wurden der Klägerin die Verteidigergebühren für ihre Tätigkeit in II. Instanz aufgrund ihres Antrages vom 11.5.2020 angewiesen. Mit Schreiben vom 8.6.2020 mahnte die Klägerin die Bescheidung ihres Antrages für die I. Instanz an. Am 17.6.2020 setzte das AG die Vergütung der Klägerin entsprechend ihrem Antrag vom 30.4.2019 auf 1.135,14 EUR fest.
Die Klägerin hat die Zahlung einer angemessene Entschädigung, deren Höhe sie in das Ermessen des Gerichts gestellt hat, die jedoch mindestens 850,00 EUR betragen soll, verlangt. Das beklagte Land beantragt, die Klage abzuweisen.
II. Zulässigkeit der Klage
1. Unbezifferter Klageantrag
Das OLG hat die Klage als zulässig angesehen. Der unbezifferte Klageantrag unter Angabe einer Mindestforderung genüge dem Bestimmtheitserfordernis gem. § 253 Abs. 2 ZPO. Da die Klägerin immaterielle Nachteile geltend mache und hierfür eine Geldentschädigung verlange, stehe die Festsetzung der Entschädigung gem. § 198 Abs. 2 S. 4 GVG im Ermessen des Gerichts, welches grds. neben einer niedrigeren auch eine höhere als die verlangte Mindestsumme ausurteilen könne. Diese Möglichkeit gebiete – wie auch sonst bei Klagen auf Geldentschädigung wegen immaterieller Nachteile – die Zulässigkeit des unbezifferten Zahlungsantrages (vgl. Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, 2013, § 198 GVG Rn 244; Zöller/Greger, ZPO, 33. Aufl., 2020, § 253 Rn 14 a).
2. Besondere Voraussetzungen der Entschädigungsklage
Auch die besonderen Voraussetzungen der Entschädigungsklage haben nach Auffassung des OLG vorgelegen. ...