Das AG sei, so das OLG, in Bußgeldsachen gem. § 71 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 OWiG berechtigt, nach Eingang der Akten einzelne Beweiserhebungen anzuordnen, worunter auch die erstmalige Anordnung der Einholung eines Sachverständigengutachtens falle (vgl. KK-OWiG/Senge, 5. Aufl., 2018, § 71 Rn 26). Eine Gewährung rechtlichen Gehörs vor der Beweiserhebung sei aufgrund dieser Vorschrift grds. nicht veranlasst (vgl. KK-OWiG/Senge, a.a.O., § 71 Rn 28). Umstritten sei jedoch, ob dem Betroffenen vor der Anordnung kostenträchtiger Beweiserhebungen ausnahmsweise rechtliches Gehör zu gewähren ist.
1. Meinungsstreit
Nach teilweise vertretener Auffassung ist dem Betroffenen im (gerichtlichen) Bußgeldverfahren vor der Anordnung kostenträchtiger Beweiserhebungen rechtliches Gehör zu gewähren und die Nichtgewährung daher als offensichtlicher Verfahrensverstoß zu behandeln, der die Nichterhebung der durch die Beweiserhebung entstandenen Verfahrenskosten zur Folge habe (vgl. LG Freiburg MDR 1993, 911; LG Baden-Baden, Beschl. v. 17.2.1994 – 1 Qs 32/94; LG Leipzig, Beschl. v. 4.8.2009 – 5 Qs 48/09, JurBüro 209, 598; LG Stuttgart, Beschl. v. 14.9.2021 – 20 Qs 16/21, AGS 2021, 513 = DAR 2022, 179; Toussaint, Kostenrecht, 53. Aufl., 2023, § 21 GKG Rn 21). Die Nichtgewährung rechtlichen Gehörs wird insoweit als Verstoß gegen den Rechtsgedanken des § 222 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG angesehen.
Nach der Gegenauffassung muss das Gericht den Betroffenen im Bußgeldverfahren vor der Beauftragung eines Sachverständigen nicht ausdrücklich anhören und auf die voraussichtlichen Kosten des Gutachtens hinweisen. Ein allgemeiner Grundsatz, dass kostenverursachende Verfahrensmaßnahmen erst dann erfolgen dürfen, wenn der Betroffene hierüber informiert wurde, existiere nicht (vgl. LG Berlin, Beschl. v. 12.7.2016 – 501 Qs 84/15, VRS 130, 236; Beschl. v. 20.10.2016 – 512 Qs 43/16 VRS 131, 10, RVGreport 2017, 197 = StRR 6/2017, 23 = VRR 1/2018, 20; Hettenbach, in: BeckOK-OWiG, 39. Edition, § 71 Rn 31). Der Rechtsgedanke des § 222 StPO begründe im Bußgeldverfahren keine Pflicht zur Anhörung des Betroffenen vor Beauftragung eines Sachverständigen, da diese Norm den Prozessbeteiligten die sachgemäße Vorbereitung der Hauptverhandlung ermöglichen, jedoch die Amtsaufklärungspflicht des Gerichts nicht einschränken und einzelne Beteiligte auch nicht vor einem Kostenrisiko bewahren solle (vgl. LG Berlin, Beschl. v. 12.7.2016 – 501 Qs 84/15, a.a.O.).
2. Auffassung des OLG Stuttgart
Die Beschwerdekammer des LG hatte sich in der angefochtenen Entscheidung der Auffassung angeschlossen, die eine Anhörungspflicht verneint. Das OLG Stuttgart ist hingegen anderer Auffassung. Vielmehr sei dem Betroffenen im Bußgeldverfahren vor der Anordnung kostenintensiver Beweiserhebungen, insbesondere von regelmäßig mit hohen Kosten verbundenen Sachverständigengutachten, rechtliches Gehör zu gewähren.
Im Bußgeldverfahren sei es dem Betroffenen – anders als im Strafverfahren – möglich, das Verfahren durch Rücknahme des Einspruchs gegen den Bußgeldbescheid jederzeit und ohne Zustimmung eines anderen Verfahrensbeteiligten zu beenden. Bei der Entscheidung über eine Einspruchsrücknahme seien für den Betroffenen im Wege einer Risikoabwägung unter Berücksichtigung der mit der Rechtsverfolgung möglicherweise verbundenen Kosten regelmäßig auch finanzielle Aspekte erheblich. Dies insbesondere, wenn durch den Bußgeldbescheid lediglich ein niedriges Bußgeld festgesetzt worden sei, welches durch die aufgrund der beabsichtigten Beweiserhebung zu erwartenden Kosten erheblich überschritten würde. Aufgrund des im Straf- und Bußgeldverfahren von Verfassungs wegen (Art. 103 Abs. 1 GG) anzuwendenden Grundsatzes der Gewährung rechtlichen Gehörs, der u.a. in § 222 Abs. 1 S. 1 StPO einfachgesetzlich im Strafprozessrecht geregelt wurde, sei dem Angeklagten bzw. im Bußgeldverfahren dem Betroffenen rechtliches Gehör zu gewähren, um diesen in die Lage zu versetzen, seine prozessualen Rechte wahrzunehmen und sich gegen die ihm gemachten Vorwürfe verteidigen zu können.
Dem könne bei der Anordnung von Beweiserhebungen gem. § 71 Abs. 1 Nr. 1 OWiG unter Berücksichtigung der dargelegten Besonderheiten im Bußgeldverfahren nur durch die Gewährung rechtlichen Gehörs vor der Anordnung kostenintensiver Beweiserhebungen Rechnung getragen werden. Denn hierdurch werde dem Betroffenen die Möglichkeit eröffnet, sein Prozessverhalten unter Berücksichtigung des Kostenrisikos zu überprüfen und möglicherweise anzupassen. Dies könne nicht nur durch Rücknahme des Einspruchs, sondern auch durch eine Änderung der bisherigen Einlassung erfolgen, durch die die Beweiserhebung entbehrlich werde. Eine Differenzierung zwischen Fällen, in denen der Betroffene durch sein bisheriges Prozessverhalten Anlass zu der beabsichtigten Beweiserhebung gegeben habe, und solchen, in denen dies nicht der Fall sei, habe nicht zu erfolgen. Die Gewährung rechtlichen Gehörs nach der Beweiserhebung, die nach allgemeiner Meinung zu erfolgen habe (vgl. KK-OWiG/Senge, a.a.O....