Art. 103 GG; § 21 GKG
Leitsatz
Dem Betroffenen ist im (gerichtlichen) Bußgeldverfahren vor der Anordnung kostenträchtiger Beweiserhebungen rechtliches Gehör zu gewähren. Die Nichtgewährung ist daher als offensichtlicher Verfahrensverstoß zu behandeln, der die Nichterhebung der durch die Beweiserhebung entstandenen Verfahrenskosten zur Folge hat.
OLG Stuttgart, Beschl. v. 26.10.2023 – 4 Ws 368/23
I. Sachverhalt
Gegen den Betroffenen ist wegen eines Abstandsverstoßes ein Bußgeldbescheid mit einer Geldbuße i.H.v. 75,00 EUR erlassen worden. Der Betroffene hat dagegen Einspruch eingelegt. Nach Eingang der Akten beim AG bestimmte der Amtsrichter Termin zur Hauptverhandlung auf den 9.2.2023 und ordnete das persönliche Erscheinen des Betroffenen an. Der Betroffene bat sodann um Prüfung einer Entscheidung im Beschlussverfahren und der Verhängung einer Geldbuße von 55,00 EUR. Der Amtsrichter ordnete aber zur Hauptverhandlung die Ladung eines Sachverständigen an mit dem Beweisthema "vorwerfbarer Abstandsverstoß aus technischer Sicht", dem die Akten übersandt wurden.
Mit Schreiben vom 31.1.2023 nahm der Betroffene den Einspruch gegen den Bußgeldbescheid zurück. Bereits vor Eingang der Rücknahme hatte der Amtsrichter den Sachverständigen mit E-Mailnachricht vom selben Tag gebeten, die Bearbeitung des Gutachtenauftrags einzustellen, da der Betroffene die Einspruchsrücknahme in einem zuvor geführten Telefonat angekündigt hatte. Am 10.2.2023 bezahlte der Betroffene den im Bußgeldbescheid festgesetzten Gesamtbetrag.
Mit Kostenrechnung vom 9.2.2023 wurde der Betroffene u.a. zur Zahlung der von dem Sachverständigen mit Rechnung vom 1.2.2023 geltend gemachten Kosten i.H.v. 2.025,98 EUR aufgefordert. Hiergegen legte der Verteidiger Erinnerung ein. Die hat das AG zurückgewiesen. Die dagegen gerichtete Beschwerde des Betroffenen hatte beim LG keinen Erfolg. Die dagegen gerichtete weitere Beschwerde des Betroffenen (§ 66 Abs. 4 S. 1 GKG) hat das OLG als zulässig und begründet angesehen.
II. Rechtliches Gehör zu gewähren?
Das AG sei, so das OLG, in Bußgeldsachen gem. § 71 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 OWiG berechtigt, nach Eingang der Akten einzelne Beweiserhebungen anzuordnen, worunter auch die erstmalige Anordnung der Einholung eines Sachverständigengutachtens falle (vgl. KK-OWiG/Senge, 5. Aufl., 2018, § 71 Rn 26). Eine Gewährung rechtlichen Gehörs vor der Beweiserhebung sei aufgrund dieser Vorschrift grds. nicht veranlasst (vgl. KK-OWiG/Senge, a.a.O., § 71 Rn 28). Umstritten sei jedoch, ob dem Betroffenen vor der Anordnung kostenträchtiger Beweiserhebungen ausnahmsweise rechtliches Gehör zu gewähren ist.
1. Meinungsstreit
Nach teilweise vertretener Auffassung ist dem Betroffenen im (gerichtlichen) Bußgeldverfahren vor der Anordnung kostenträchtiger Beweiserhebungen rechtliches Gehör zu gewähren und die Nichtgewährung daher als offensichtlicher Verfahrensverstoß zu behandeln, der die Nichterhebung der durch die Beweiserhebung entstandenen Verfahrenskosten zur Folge habe (vgl. LG Freiburg MDR 1993, 911; LG Baden-Baden, Beschl. v. 17.2.1994 – 1 Qs 32/94; LG Leipzig, Beschl. v. 4.8.2009 – 5 Qs 48/09, JurBüro 209, 598; LG Stuttgart, Beschl. v. 14.9.2021 – 20 Qs 16/21, AGS 2021, 513 = DAR 2022, 179; Toussaint, Kostenrecht, 53. Aufl., 2023, § 21 GKG Rn 21). Die Nichtgewährung rechtlichen Gehörs wird insoweit als Verstoß gegen den Rechtsgedanken des § 222 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG angesehen.
Nach der Gegenauffassung muss das Gericht den Betroffenen im Bußgeldverfahren vor der Beauftragung eines Sachverständigen nicht ausdrücklich anhören und auf die voraussichtlichen Kosten des Gutachtens hinweisen. Ein allgemeiner Grundsatz, dass kostenverursachende Verfahrensmaßnahmen erst dann erfolgen dürfen, wenn der Betroffene hierüber informiert wurde, existiere nicht (vgl. LG Berlin, Beschl. v. 12.7.2016 – 501 Qs 84/15, VRS 130, 236; Beschl. v. 20.10.2016 – 512 Qs 43/16 VRS 131, 10, RVGreport 2017, 197 = StRR 6/2017, 23 = VRR 1/2018, 20; Hettenbach, in: BeckOK-OWiG, 39. Edition, § 71 Rn 31). Der Rechtsgedanke des § 222 StPO begründe im Bußgeldverfahren keine Pflicht zur Anhörung des Betroffenen vor Beauftragung eines Sachverständigen, da diese Norm den Prozessbeteiligten die sachgemäße Vorbereitung der Hauptverhandlung ermöglichen, jedoch die Amtsaufklärungspflicht des Gerichts nicht einschränken und einzelne Beteiligte auch nicht vor einem Kostenrisiko bewahren solle (vgl. LG Berlin, Beschl. v. 12.7.2016 – 501 Qs 84/15, a.a.O.).
2. Auffassung des OLG Stuttgart
Die Beschwerdekammer des LG hatte sich in der angefochtenen Entscheidung der Auffassung angeschlossen, die eine Anhörungspflicht verneint. Das OLG Stuttgart ist hingegen anderer Auffassung. Vielmehr sei dem Betroffenen im Bußgeldverfahren vor der Anordnung kostenintensiver Beweiserhebungen, insbesondere von regelmäßig mit hohen Kosten verbundenen Sachverständigengutachten, rechtliches Gehör zu gewähren.
Im Bußgeldverfahren sei es dem Betroffenen – anders als im Strafverfahren – möglich, das Verfahren durch Rücknahme des Einspruchs gegen den Bußgeldbescheid jederzeit ...