RVG § 14 Abs. 1 RVG VV Nr. 2300
Leitsatz
Sofern die außergerichtliche Tätigkeit des Anwalts weder umfangreich noch schwierig war, kann die 1,3-“Schwellengebühr“ nicht unter Berufung auf die Toleranzrechtsprechung um bis zu 20 % überschritten werden (gegen BGH, Urt. v. 13. 1. 2011 – IX ZR 110/10 [AGS 2011, 120]).
AG Düsseldorf, Urt. v. 4.1.2012 – 32 C 10062/11
1 Sachverhalt
Der Kläger verlangt von seinem Rechtsschutzversicherer die Erstattung einer 1,5-Geschäftsgebühr. Der Rechtsschutzversicherer hat lediglich eine 1,3-Geschäftsgebühr gezahlt, weil die Angelegenheit weder umfangreich noch schwierig gewesen sei. Demgegenüber hat der Kläger argumentiert, dieser Einwand sei nach der Rspr. des BGH (Urt. v. 13.1.2011 – IX ZR 110/10) unerheblich, da auch bei der Schwellengebühr ein Toleranzbereich von 20 % dem Anwalt zuzugestehen sei und die abgerechnete Gebühr von 1,5 innerhalb dieser Toleranz liege.
Das Gericht hat die Klage abgewiesen.
2 Aus den Gründen
Der Kläger hat aus dem zwischen den Parteien geschlossenen Rechtsschutzvertrag keine Ansprüche auf Zahlung von 47,48 EUR. Die Ansprüche des Klägers auf Erstattung seiner Rechtsanwaltskosten sind bereits infolge Erfüllung erloschen, § 262 BGB.
1. Die Beklagte hat die Rechtsanwaltsgebühren in der Höhe reguliert, in der sie bei Zugrundelegung einer 1,3-fachen Gebühr entstanden wären. Weitergehende Gebühren waren nicht zu ersetzen.
2. Das Gericht verkennt dabei nicht, dass der BGH in seinem Urt. v. 13.1.2011 dem Rechtsanwalt bei der Bemessung seiner Gebühren einen Ermessensspielraum zuerkannt hat und hierbei meint, dass dem Rechtsanwalt bis zu einer Grenze von 20 % eine sog. Toleranzgrenze zustehe (BGH NJW 2011, 1603 [= AGS 2011, 120]). Nach dem zitierten Urteil des BGH ist die Festlegung der Gebühr der gerichtlichen Prüfung entzogen, solange der Rechtsanwalt diese Toleranzgrenze wahrt. Dies gelte auch im Verhältnis gegenüber Dritten, da innerhalb der Toleranzgrenze die Festlegung der Gebühr nicht unbillig sei (§ 14 Abs. 1 S. 4 RVG).
Dem kann nicht gefolgt werden. Das Urteil des BGH v. 13.1.2011 ist für das Gericht nicht verbindlich. Zwar ist es grundsätzlich aus Gründen der Rechtssicherheit und der Gleichbehandlung aller Rechtsunterworfenen geboten, in der Regel juristisch gut begründeter Rspr. des höchsten ordentlichen Gerichts zu folgen. Dies kann aber dann nicht gelten, wenn der eindeutige Gesetzeswortlaut missachtet und die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung überschritten werden. So liegt es hier.
In Nr. 2300 VV heißt es ausdrücklich: "Eine Gebühr von mehr als 1,3 kann nur gefordert werden, wenn die Tätigkeit umfangreich oder schwierig war".
Indem der BGH dem Rechtsanwalt eine – der richterlichen Prüfung entzogene – darüber hinausgehend Möglichkeit eines Aufschlags eröffnet, schafft der BGH faktisch eine Situation, in der eine bis zu 1,56-fache Gebühr (1,3-fach zuzüglich 20 %) regelmäßig ohne nähere Begründung und gerichtliche Überprüfungsmöglichkeit gefordert werden kann. Eine derartige Verteuerung der Gebühren obliegt nicht der Rspr., sondern dem Gesetzgeber. Dies gilt auch und insbesondere, soweit Dritte für die Erstattung der Gebühren haften (wie hier auch AG Halle (Saale), Beschl. v. 20.7.2011 – 93 C 57/10 sowie AG Hagen, Urt. v. 13.9.2011 – 144 C 258/11). Der eindeutige Gesetzeswortlaut ist bindend und kann auch nicht mit einer "Toleranzrechtsprechung" umgangen werden.
Die Tätigkeit des Prozessbevollmächtigten des Klägers war weder umfangreich noch schwierig. (wird ausgeführt) …
Insofern liegt hier sogar eher eine nicht umfangreiche und eher einfache Tätigkeit vor, für die nach der gesetzgeberischen Wertung gleichwohl eine 1,3-fache Gebühr angemessen ist. Eine weitergehende Gebühr ist auch unter Würdigung der zitierten Rspr. des BGH nicht angemessen. Im Übrigen lag dem vom BGH entschiedenen Fall (NJW 2011, 1063) ein wesentlich komplizierterer Fall zugrunde, bei dem es im Tatsächlichen als auch im Rechtlichen zahlreiche Schwierigkeiten gab. Es ging um Fragen aus dem Vertragsrecht einschließlich eines möglichen Verzichts, wobei sich sowohl materielle als auch Vollstreckungsfragen stellten …
IV. Die Berufung war zuzulassen, weil die Sache grundsätzliche Bedeutung hat und die Sicherung einer einheitlichen Rspr. eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert (§ 511 Abs. 4 Nr. 1 ZPO). Das Gericht folgt der Rspr. des BGH nicht, weil es in der sog. Toleranz-Rechtsprechung die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung verletzt sieht.
Mitgeteilt von Ass. iur. Hans-Willi Scharder, Mönchengladbach