RVG VV Nr. 2300, Anm. zu Nr. 2300 RVG § 14 Abs. 1
Leitsatz
Ist die Tätigkeit des Anwalts weder umfangreich noch schwierig, so kann die Kappungsgrenze der Anm. zu Nr. 2300 VV nicht mit der Begründung überschritten werden, dem Anwalt stehe ein Toleranzbereich bis zu 20 % zu.
BGH, Urt. v. 5.2.2013 – VI ZR 195/12
1 Sachverhalt
Die Beklagten haften der Klägerin auf Ersatz von 50 % des bei einem Verkehrsunfall entstandenen Schadens. Im Revisionsverfahren streiten die Parteien noch darum, ob die vorgerichtliche Tätigkeit des Rechtsanwalts der Klägerin mit einer 1,5-Geschäftsgebühr oder mit einer 1,3 Geschäftsgebühr abzurechnen ist.
Das LG hat der Schadensberechnung eine 1,3 Geschäftsgebühr in Höhe von 351,90 EUR zugrunde gelegt und die weitergehende Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat die Berufung der Klägerin insoweit zurückgewiesen. Dagegen wendet sich die Klägerin mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision, die auf die Frage nach der Höhe der anzusetzenden Geschäftsgebühr beschränkt ist. Die Klägerin erstrebt die Zuerkennung eines weiteren Betrags in Höhe von 175,10 EUR.
2 Aus den Gründen
I. Das Berufungsgericht führt im Wesentlichen aus:
Die Berufung bleibe ohne Erfolg, soweit das LG die vorgerichtlichen Anwaltskosten nach Nr. 2300 VV-RVG auf Basis einer Geschäftsgebühr in Höhe der 1,3-fachen Regelgebühr statt einer 1,5-fachen Gebühr zugesprochen habe. Denn die vom Prozessbevollmächtigten der Klägerin berechnete Gebühr sei im Verhältnis zu den Beklagten nicht verbindlich, weil sie unbillig sei (§ 14 Abs. 1 S. 4 RVG). Die Anmerkung zu Nr. 2300 VV bestimme ausdrücklich, eine Gebühr von mehr als 1,3 könne nur gefordert werden, wenn die Tätigkeit umfangreich oder schwierig gewesen sei. Die erstmals in der Berufungsinstanz von der Klägerin ausgeführten Umstände (streitiger Verkehrsunfall, Vorwurf eines Rotlichtverstoßes, Leasingfahrzeug, Schadenshöhe, Stundungsabrede) rechtfertigten nicht die Annahme einer umfangreichen oder schwierigen Tätigkeit wie sie beispielsweise im Falle erheblicher Schadensfolgen bei der Geltendmachung von Schmerzensgeld, Haushaltsführungs- und Unterhaltsschäden anzunehmen sei. Vielmehr handele es sich um einen durchschnittlichen Verkehrsunfall mit streitiger Haftungsquote, der weder die Entfaltung umfangreicher noch schwieriger Tätigkeiten erfordert habe. Soweit der BGH geurteilt habe, die Erhöhung der 1,3-fachen Regelgebühr auf eine 1,5-fache Gebühr unterliege wegen eines dem Rechtsanwalt zustehenden 20 %igen Spielraums (sog. Toleranzgrenze) keiner gerichtlichen Überprüfung, teile der Senat im Hinblick auf den eindeutigen Wortlaut der Vorschrift die dagegen vorgebrachte Kritik. Ein Toleranzbereich stehe dem Rechtsanwalt bei Rahmengebühren unter der Voraussetzung einer zutreffenden Einordnung des maßgebenden Sachverhalts anhand der in § 14 Abs. 1 RVG aufgezeigten Kriterien zu.
Die Erfüllung der Kriterien selbst bleibe vom Gericht jedoch voll überprüfbar.
Auf die Anmerkung zu Nr. 2300 VV bezogen heiße das, dass die Frage, ob die anwaltliche Tätigkeit umfangreich oder schwierig sei, der uneingeschränkten gerichtlichen Beurteilung unterliege. Werde beides verneint, stehe dem Rechtsanwalt keine höhere Gebühr als die 1,3-fache Regelgebühr zu.
II. Die dagegen gerichtete Revision ist unbegründet. Das Berufungsgericht nimmt ohne Rechtsfehler an, dass im vorliegenden Fall die anwaltliche Geschäftsgebühr nach Nr. 2300 VV mit 1,3 anzusetzen ist.
1. Ohne Erfolg wendet sich die Revision gegen den rechtlichen Ausgangspunkt des Berufungsgerichts.
Nach der aktuellen Rspr. des BGH kann eine Erhöhung der Geschäftsgebühr über die Regelgebühr von 1,3 hinaus nur gefordert werden, wenn die Tätigkeit des Rechtsanwalts umfangreich oder schwierig war, und ist deshalb nicht unter dem Gesichtspunkt der Toleranzrechtsprechung bis zu einer Überschreitung von 20 % der gerichtlichen Überprüfung entzogen (BGH, Urt. v. 11.7.2012 – VIII ZR 323/11, NJW 2012, 2813 Rn 8 ff. m.w.Nachw. [= AGS 2012, 373]).
Zwar steht dem Rechtsanwalt gemäß § 14 Abs. 1 RVG bei Rahmengebühren wie der Geschäftsgebühr nach Nr. 2300 VV ein Ermessensspielraum zu, so dass, solange sich die vom Rechtsanwalt im Einzelfall bestimmte Gebühr innerhalb einer Toleranzgrenze von 20 % bewegt, die Gebühr nicht unbillig im Sinne des § 14 Abs. 1 S. 4 RVG und daher von einem ersatzpflichtigen Dritten hinzunehmen ist. Eine Erhöhung der Schwellengebühr von 1,3, die die Regelgebühr für durchschnittliche Fälle darstellt, auf eine 1,5-fache Gebühr ist aber nicht der gerichtlichen Überprüfung hinsichtlich des Vorliegens der tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Überschreitung der Regelgebühr von 1,3 entzogen. Andernfalls könnte der Rechtsanwalt für durchschnittliche Sachen, die nur die Regelgebühr von 1,3 rechtfertigen, ohne Weiteres eine 1,5-fache Gebühr verlangen. Dies verstieße gegen den Wortlaut und auch gegen den Sinn und Zweck des gesetzlichen Gebührentatbestandes in Nr. 2300 VV, der eine Erhöhung der Geschäftsgebühr über die Regelgebühr hinaus nicht in das Ermessen des Rechtsanwalts stellt, sondern...