Die Frage der Notwendigkeit der Tätigkeit eines Verteidigers in der Berufungsinstanz in den Fällen, in denen die Staatsanwaltschaft die eingelegte Berufung vor einer Begründung zurücknimmt, und der Entstehung einer Verfahrensgebühr bei dieser Konstellation ist in der Rspr. umstritten (vgl. Meyer/Goßner, StPO, 58. Aufl. 2015, § 464a Rn 10).
Eine Auffassung verneint das Entstehen einer Gebühr bei einer Berufungsrücknahme vor Begründungseingang mit den Argumenten, dass vor einer Begründung der Berufung durch die Staatsanwaltschaft alle Erörterungen ohne objektiven Wert seien, solange Umfang und Zielrichtung der Berufung nicht bekannt seien, und zudem die Konstellation mit derjenigen im Revisionsverfahren, in welchem nach der Rechtslage vor Begründung der Revision kein Gebührenanspruch des Rechtsanwaltes bestehe, deswegen vergleichbar sei, weil nach Nr. 146 Abs. 1 der Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren (RiStBV) die Staatsanwaltschaft jedes von ihr eingelegte Rechtsmittel begründen müsse. Ein Verteidiger könne deshalb davon ausgehen, dass – wenn keine Berufungsrücknahme erfolge – die Berufung der Staatsanwaltschaft innerhalb der Frist des § 117 StPO begründet würde. Für das Anfallen einer Verfahrensgebühr für Berufung und Revision sei daher in der vorliegenden Konstellation keine unterschiedliche Beurteilung geboten (OLG Köln, Beschl. v. 3.7.2015 – 2 Ws 400/15 [= AGS 2015, 511]; KG Beschl. v. 19.5.2011 – 1 WS 168/10; LG Bochum JurBüro 2007, 38; LG Koblenz JurBüro 2009, 198; LG Köln StraFo 2007, 305; OLG Bamberg, JurBüro 1988, 64).
Nach a.A. reicht auch im Falle einer späteren Rücknahme der Berufung durch die Staatsanwaltschaft für das Entstehen der Gebühr nach Nr. 4124, 4125 VV eine vor Ablauf der Berufungsbegründungsfrist entfaltete Tätigkeit des Verteidigers (LG München I, Beschl. v. 29.8.2014 – 22 Qs 55/14; Burhoff, RVG, 3. Aufl. 2012, Nr. 4124 VV Rn 24 ff.; Burhoff, in: Gerold/Schmitt, RVG, 22. Aufl. 2015, Einleitung zu Nr. 4124, 4125 VV Rn 7 und Nr. 4124, 4125 VV Rn 6; Uher, in: Bischof/Jungbauer/Bräuer/Curkovic/Matthias/Uher, RVG, 6. Aufl. 2014, Nr. 4128–4135 VV Rn 93; Schneider, in: Schneider/Wolf, AnwK, RVG, 7. Aufl. 2014, VV 4124–4125 Rn 7; Hartung, in: Hartung/Schons/Enders, RVG, 2. Aufl. 2013, Nr. 4124–4129 VV Rn 11; Hartmann, a.a.O., Nr. 4124–4129 VV Rn 7; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 464a Rn 10 für den Regelfall; Gieg, in: Karlsruher Kommentar StPO, 7. Aufl. 2013, § 464a Rn 10).
Der zuletzt genannten Ansicht schließt sich die Kammer an.
Es ist zur Überzeugung der Kammer mit den Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Verfahrens nicht vereinbar, das Informations- und Beratungsbedürfnis eines Angeklagten nach Eingang eines Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft stets als "überflüssig" anzusehen, solange dessen Zielrichtung und Umfang nicht bekannt sind (so auch LG München I a.a.O.). Im vorliegenden Fall wurde der Verteidiger durch das AG von der (noch nicht begründeten) Berufung der Staatsanwaltschaft informiert. Auch in diesem Verfahrensstadium kommen seitens des Angeklagten und seitens des Verteidigers durchaus zweckgerichtete Maßnahmen in Betracht, welche die Rechtslage klären oder die weitere Verteidigung vorbereiten. Dies gilt insbesondere dann, wenn, wie hier, die Zielrichtung des staatsanwaltschaftlichen Rechtsmittelangriffs nach der Sachlage und aus der Sicht der Verteidigung nicht zweifelsfrei war, da die Staatsanwaltschaft in der Hauptverhandlung vor dem AG einen Freispruch beantragt hatte.
Eine andere Entscheidung ist auch schwerlich mit dem Grundsatz der Chancengleichheit im Strafverfahren zu vereinbaren. Denn wenn die Staatsanwaltschaft nur vorsorglich ein Rechtsmittel einlegt, so muss es dem Angeklagten unbenommen sein, ebenso vorsorglich vorbereitende Maßnahmen zur Verteidigung gegen dieses Rechtsmittel zu treffen, zumal er mit der Möglichkeit der Durchführung des Rechtsmittels rechnen muss (vgl. OLG Stuttgart, Beschl. v. 28.4.1993 – 1 WS 110/93).
Letztlich ist die Konstellation auch nicht vollends mit derjenigen im Revisionsverfahren zu vergleichen, weil anders als für die Revision (§§ 344, 146 Abs. 1 StPO) im Berufungsverfahren keine gesetzliche Begründungspflicht besteht, so dass eine fehlende Begründung zwar einen Verstoß gegen § 146 Abs. 1 RiStBV darstellt, die Berufung hierdurch jedoch nicht unzulässig wird.
Zu Gunsten des Beschwerdeführers waren daher dessen Gebühren und Auslagen antragsgemäß festzusetzen.
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AGS 4/2016, S. 168 - 169