Simsalabim: Die weiße Taube und der BGH
Da behaupte noch einer, Rechtsprechung im Allgemeinen und Rechtsprechung zum anwaltlichen Gebührenrecht im ganz Besonderen sei langweilig! Nachdem die Bundesrichter in Karlsruhe das Entertainment für sich entdeckt haben, darf man praktisch jeder neuen Entscheidung mit Genuss und Vorfreude entgegenfiebern. Die neuesten Erkenntnisse aus Karlsruhe zur Toleranzrechtsprechung bei Rahmengebühren und zur Anm. zu Nr. 2300 VV sind Unterhaltung pur und haben etwas von einer Zaubershow, in deren Mittelpunkt die berühmte weiße Taube steht, die mal da ist, mal verschwindet und dann wieder da ist. Derartige Zauberkunststücke heben sich wohltuend von der Tätigkeit von Hobby-Zauberern ab, wie sie beispielsweise in Walsrode und Bremervörde zu finden sind, die ganze Vergütungstatbestände verschwinden lassen, ohne dass es ihnen gelingt, sie wieder hervorzuzaubern. Da ist man eben in Karlsruhe weitaus besser aufgehoben.
Hier ein kurzer Überblick über die Zauberei aus Karlsruhe, die natürlich nicht von einem einzigen Senat alleine bewerkstelligt werden konnte:
Erster Akt
Verwirrung und Überraschung. Am 13.1.2011 lässt der IX. Senat vor einem erstaunten, naturgemäß zum Teil auch geradezu begeisterten Publikum die Anm. zu Nr. 2300 VV verschwinden, indem er wortwörtlich formuliert:
"Die Erhöhung der 1,3-fachen Regelgebühr auf eine 1,5-fache Gebühr ist einer gerichtlichen Überprüfung entzogen. Für Rahmengebühren entspricht es allgemeiner Meinung, dass dem Rechtsanwalt bei der Festlegung der konkreten Gebühr ein Spielraum von 20 % … zusteht". (Hervorhebungen durch den Unterzeichner).
Verwirrung macht sich breit! Keiner kann so recht glauben, was er eben gesehen oder auch nicht gesehen hat! Gebührenrechtler versuchen verzweifelt, in irgendeiner früheren Entscheidung oder in der Literatur eine Grundlage für die überraschende Auffassung zu finden, mit Hilfe der Toleranzrechtsprechung könne man die Anmerkung außer Kraft setzen. Auch im Bundesjustizministerium ist man ratlos und der Verfasser dieser Anmerkung schreibt: "Praktisch könnte der Anwalt nunmehr in fast allen Fällen die heiß begehrte Mittelgebühr in Rechnung stellen, obgleich weder beim Schwierigkeitsgrad noch beim Umfang der anwaltlichen Tätigkeit auch nur leicht überdurchschnittliche Verhältnisse vorhanden sind. So anwaltsfreundlich die Entscheidung sein mag, sie kann schon deshalb nicht akzeptiert werden, weil sie das gesamte Beurteilungsgefüge außer Kraft setzen würde".
Die Gebührenreferententagung der Rechtsanwaltskammern ist sich dann auch einig, dass dieser "Zaubertrick" wohl noch eine Auflösung erfahren werde, sodass man weiterhin an der bewährten Beurteilungspraxis in den Gutachten festhalten sollte. Die Rechtsprechung verhält sich ähnlich und stellt wiederholt fest: "Die Anmerkung zu Nr. 2300 VV lebt und sie ist auch noch vorhanden."
Zweiter Akt
Der Spannungsbogen wird intensiviert. Der VI. Senat tritt mit einer bemerkenswert kurzen Begründung dem IX. Senat bei, weist die ungehorsamen Untergerichte in ihre Schranken und billigt dem betroffenen Rechtsanwalt die abgerechnete Mittelgebühr (1,5) unter Hervorhebung der Toleranzrechtsprechung zu. Aufmerksame Beobachter im Publikum meinen jedoch bereits ein kleines Augenzwinkern des Zauberkünstlers wahrgenommen zu haben. Der VI. Senat belässt es jedenfalls nicht beim Hinweis auf die Toleranzrechtsprechung und noch viel weniger spricht er davon, dass irgendetwas einer gerichtlichen Überprüfung entzogen sei, sondern er wirft dem Berufungsgericht "nur" vor, den entsprechend dezidierten Vortrag des betroffenen Rechtsanwaltes zur überdurchschnittlichen Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit nicht ausreichend berücksichtigt zu haben.
Stieg-Larsson-Fans ahnen es schon: Hier wird nach den Akten Verblendung und Verdammnis der dritte Akt Vergebung (und Auflösung) vorbereitet.
Dritter Akt
Da ist sie ja wieder! Nach hervorragender dramaturgischer Vorbereitung übergibt der VI. Senat den Stab – pardon: den Zylinder – an den VIII. Senat, der sich dank seiner Rechtsprechung zur Anrechnung der Geschäftsgebühr ja schon einer bundesweiten Prominenz erfreut und es sich irgendwie verdient hat, nunmehr seinerseits Dinge im Gebührenrecht geradezurücken. In einem furiosen Finale bestätigt der VIII. Senat die soeben vom VI. Senat noch beanstandete Rechtsprechung und führt wortwörtlich (dies haben wir allerdings so schon einmal gelesen, s.o.) aus:
"Andernfalls könnte der Rechtsanwalt für durchschnittliche Sachen, die nur die Regelgebühr von 1,3 rechtfertigen, ohne weiteres als eine 1,5-Gebühr verlangen." (Erleichterung beim sachkundigen Publikum, sicherlich aber auch Verärgerung bei betroffenen Rechtsanwälten, die schon glaubten, auch ohne Rechtfertigung die Mittelgebühr zur Regelgebühr machen zu können.)
Und durch den Hinweis des VIII. Senats, dass der IX. und der VI. Senat das ja auch eigentlich gar nicht so gemeint hätten (was angesichts der nachzulesenden jeweiligen Entscheidungsgründe immer noch etwas irri...