a) Sinn und Zweck von § 48 Abs. 6 RVG
Wenn das Gericht im Beiordnungs- oder Bestellungsbeschluss ausdrücklich bestimmt hat, dass der Rechtsanwalt mit Wirkung ab einem bestimmten Zeitpunkt beigeordnet oder bestellt wird, stellt sich die Frage, ob dann wegen § 48 Abs. 6 RVG auch vor diesem Wirksamkeitszeitpunkt erbrachte Tätigkeiten zu vergüten sind oder ob die gerichtliche Beiordnung oder Bestellung mit ihrer zeitlichen Einschränkung gem. § 48 Abs. 1 RVG maßgebend ist. Sinn der Regelung in § 48 Abs. 6 RVG ist es, Streit und Unklarheiten zu vermeiden, die durch eine späte Bestellungsentscheidung entstehen und die Effektivität einer Pflichtverteidigung oder sonstigen Vertretung beeinträchtigen können. Die Rückwirkungsfiktion und mit ihr eine umfassend abgesicherte Kostenübernahme durch den Staat erweist sich vor diesem Hintergrund nicht als vergütungsrechtlicher Selbstzweck, sondern stellt sich als Ausprägung rechtsstaatlich garantierter Pflichtverteidigung dar. Mit der Regelung wird ein kostenrechtlicher Gleichlauf mit der Wahlverteidigung bzw. Wahlvertretung angestrebt. Deshalb ist die vom Gericht vorgenommene gegenständliche (zeitliche) Beschränkung bei der Festsetzung gem. § 55 RVG vom Urkundsbeamten zu beachten.
b) Konkurrenz zwischen § 48 Abs. 6 RVG und gerichtlicher Anordnung eines Wirksamkeitszeitpunktes
Gem. § 48 Abs. 1 RVG bestimmt sich der Vergütungsanspruch nach dem Beschluss, durch den die PKH bewilligt und der Rechtsanwalt beigeordnet oder bestellt worden ist. Die ausdrückliche Anordnung eines Wirksamkeitszeitpunktes wird nicht durch die Rückwirkungsfiktion in § 48 Abs. 6 S. 1 RVG verdrängt. Denn die ausdrückliche gerichtliche Anordnung des Rückwirkungszeitpunkts ist vorrangig zu beachten. Für die Anwendung von § 48 Abs. 6 S. 1 RVG ist nur Raum, wenn das Gericht nichts anderes bestimmt hat. § 48 Abs. 6 S. 1 RVG dient nicht dazu, dem bestellten oder beigeordneten Rechtsanwalt bei der ausdrücklichen gerichtlichen Bestimmung eines Zeitpunktes, ab dem die Beiordnung oder Bestellung wirksam wird, einen darüber hinaus zurückwirkenden Vergütungsanspruch zu verschaffen. Insoweit bleibt es bei dem in § 48 Abs. 1 RVG verankerten Grundsatz, dass sich der Vergütungsanspruch nach den Beschlüssen bestimmt, durch die die PKH bewilligt und der Rechtsanwalt beigeordnet oder bestellt worden ist. Es ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass die Regelung in § 48 Abs. 6 RVG als ausschließliche Ausnahmeregelung für die Vergütung nach den Teilen 4–6 VV konzipiert worden ist. Es soll lediglich eine Absicherung des Vergütungsanspruchs für einer Beiordnung oder Bestellung vorausgehende Tätigkeiten erreicht werden.
Die Entscheidung des OLG Koblenz ändert daran nichts. Das OLG Koblenz hat lediglich festgestellt, dass auf den im Wege der PKH nach § 397a Abs. 2 StPO beigeordneten Rechtsanwalt § 48 Abs. 6 S. 1 RVG entsprechende Anwendung finde und der Nebenklägervertreter daher alle auch für den Wahlverteidiger vorgesehenen Gebühren erhalte. In dem vom OLG Koblenz entschiedenen Fall enthielt die Beiordnungsentscheidung aber gerade keinen ausdrücklichen Wirksamkeitszeitpunkt.
Autor: Dipl.-Rpfl. Joachim Volpert, Willich
AGS, S. 365 - 369