RVG VV Nr. 1010
Leitsatz
Bei der Zusatzgebühr gem. Nr. 1010 VV findet das gesetzgeberische Anliegen in dem bereits nicht klar gefassten Wortlaut einen nur unzureichenden Ausdruck; eine Korrektur im Sinne einer Erweiterung des Anwendungsbereiches obliegt jedoch dem Gesetzgeber.
OLG München, Beschl. v. 26.6.2020 – 11 W 674/20
1 Sachverhalt
Die Parteien streiten um die Berechtigung der Zusatzgebühr für "besonders umfangreiche Beweisaufnahmen" gem. Nr. 1010 VV.
Mit Klageschrift bereits v. 20.10.2005 haben die Kläger gegen die Beklagte Mängelansprüche hinsichtlich von dieser durchgeführten Zimmereiarbeit geltend gemacht. Nach ausführlicher Beweisaufnahme, insbesondere der Erholung mehrerer Gerichtsgutachten, die von den Sachverständigen teilweise auch mündlich erläutert wurden, gab das LG mit Urt. v. 5.10.2017 der Klage zu einem erheblichen Teil statt; von den Kosten des Rechtsstreits haben die Beklagten danach 82 % zu tragen. Die Berufung der Beklagten blieb ohne Erfolg; deren Nichtzulassungsbeschwerde gegen den Beschluss des OLG München v. 17.8.2018 gem. § 522 Abs. 2 ZPO wurde zurückgenommen.
Mit Festsetzungsgesuch v. 6.11.2019 beanspruchten die Kläger eine 0,3-Zusatzgebühr gem. Nr. 1010 VV. Diese sei hier berechtigt, insbesondere hätten eine ganze Reihe von Gerichtsterminen stattgefunden, ferner Ortstermine und darüber hinaus sei auch ein Privatgutachten in den Rechtsstreit einbezogen worden.
Die Rechtspflegerin lehnte mit dem nunmehr angefochtenen Zurückweisungsbeschluss die Festsetzung der Gebühr ab und verwies zur Begründung darauf, es habe zwar mehrere gerichtliche Termine gegeben, jedoch seien nur in zwei dieser Termine Sachverständigen vernommen worden. Die Voraussetzungen für die Entstehung der Gebühr seien damit nicht gegeben.
Hiergegen wenden sich die Kläger mit ihrer sofortigen Beschwerde, mit der sie u.a. darauf hinweisen, es sei ein ausführliches Privatgutachten beigezogen worden, ferner habe in dem Gerichtstermin v. 22.5.2014 die Vernehmung von zwei Sachverständigen zumindest begonnen. Das Verfahren sei außergewöhnlich umfangreich gewesen, was sich nicht zuletzt aus dessen Dauer und dem Umfang der Akten ergebe; auf die Beschwerdeschrift im Einzelnen wird Bezug genommen.
2 Aus den Gründen
Die gem. §§ 104 Abs. 3, 567, 569 ZPO zulässige sofortige Beschwerde muss – so nachvollziehbar ihr Anliegen im Kern auch sein mag – ohne Erfolg bleiben:
1. Die im Jahre 2013 mit dem Zweiten KostRMoG eingeführte Gebührenziffer Nr. 1010 VV lässt, von Wortlaut wie auch von der Gesetzesbegründung her (BT-Drs 17/11471, 272, re. Sp. oben), an Deutlichkeit zu wünschen übrig, weshalb ihr in der Lit. teilweise ein relevanter Anwendungsbereich abgesprochen wird (etwa Hansens, RVGreport 2015, 340, 341; Ders., RVGreport 2013, 410). Rspr. dazu existiert kaum (s. z.B. LG Ravensburg, Beschl. v. 15.4.2015 – 6 O 346/13 [= AGS 2016, 393]), die Behandlung in der Kommentarliteratur ist übersichtlich (vgl. Gerold/Schmidt-Müller-Rabe, RVG, 24. Aufl., VV Nr. 1010; Schneider/Wolf, RVG, 8. Aufl., VV Nr. 1010).
2. Der Senat teilt die Auffassung der Rechtspflegerin, wonach die gesetzlich vorgegebenen Voraussetzungen für die Entstehung der Zusatzgebühr hier nicht angenommen werden dürfen.
a) Vorliegend kommt es ohne Zweifel nicht darauf an, ob die im Wortlaut genannte "besonders umfangreiche Beweisaufnahme" bereits durch mindestens drei Gerichtstermine, in denen Sachverständige oder Zeugen vernommen werden, indiziert wird oder ob es sich dabei um ein eigenständiges (vom Rechtspfleger, der das Verfahren nicht kennt), zusätzlich zu prüfendes, Tatbestandsmerkmal handelt: Der langjährige Verlauf des Verfahrens mit einer ganzen Reihe von Gerichtsterminen, mehreren Gutachten etc. etc. legt nahe, dass die Gebühr an diesem Tatbestandsmerkmal nicht scheitern würde.
b) Das Gesetz sieht indes vor, dass in mindestens drei Terminen Sachverständige oder Zeugen vernommen wurden – daran fehlt es hier. Zu Recht führt die Rechtspflegerin aus, nur in den beiden Terminen v. 9.10.2015 u. v. 16.6.2016 sei es zu einer Anhörung der Bausachverständigen gekommen.
aa) Ein Abstellen auf die gewiss lange Dauer des Verfahrens, den Umfang der Akten, den erheblichen Aufwand der Anwälte etc., ist nicht möglich: Gerade das KostR bedarf klarer, praktikabler und unmissverständlicher Vorgaben, da es der Rechtspflegerin oder dem Kostenbeamten nicht angesonnen werden kann, in Fällen wie hier weitergehende Überlegungen, bspw. zum Anliegen des Gesetzgebers, anzustellen und mit den Prozessbevollmächtigten hierüber zu korrespondieren. Bereits an anderer Stelle hat der Senat mehrfach betont, zumal i.S.d. gebotenen Praktikabilität im KostR, müsse es dem Gesetzgeber obliegen, unzureichende Bestimmungen zu korrigieren, nicht aber sei es Sache der mit Kostenfragen befassten Beamten, langwierige Ermittlungen anzustellen oder mit Anwälten breite Auseinandersetzungen über die Möglichkeit von Analogien zu führen (s. z.B. Senatsbeschl. v. 20.9.2019 – 11 WF 666/19, = JurBüro 2020, 21 [= AGS 2019, 50]).
bb) Das Verfahren der Kostenfestsetzung, v. BG...