Dr. Alexander Wirich, Victoria Riedel
1. Klausur: Pflichtteilsrecht
Bearbeitungszeit für diese – mittelschwere – Klausur: 180 Minuten
Sachverhalt
Der Erblasser E ist am 3.5.2022 verstorben. Er war in zweiter Ehe verheiratet mit seiner Ehefrau F, mit der er im Güterstand der Gütertrennung lebte. Im Rahmen des Ehevertrages hatte F auch auf ihr Pflichtteilsrecht am dereinstigen Nachlass des E verzichtet.
In erster Ehe, die im Mai 2017 geschieden wurde, war E mit M verheiratet. M hatte anlässlich des Abschlusses eines Ehe- und Erbvertrages auf ihr gesetzliches Erbrecht nach E verzichtet. Aus der Ehe zwischen E und M sind drei ehegemeinschaftliche, leibliche Kinder hervorgegangen, nämlich X, Y und Z. Außerdem haben M und E im Jahr 2010 den im Jahr 2008 geborenen A adoptiert. Weitere Kinder hatte E nicht.
In seinem handschriftlichen Testament vom März 2022 hat E seine zweite Ehefrau F zur Alleinerbin eingesetzt. Zugunsten seiner geschiedenen Ehefrau M hat E ein Vermächtnis in Höhe von 100.000 EUR ausgesetzt. Seine Kinder hat E enterbt und nur dem Sohn Y ein Vermächtnis in Höhe von 150.000 EUR hinterlassen. Y hat dieses Vermächtnis bereits angenommen, F den entsprechenden Betrag unverzüglich ausgezahlt.
Der Nachlass des E setzt sich im Wesentlichen wie folgt zusammen:
Als E noch nicht mit F verheiratet war, hat er ihr ein Darlehen über 200.000 EUR gewährt, das einen Tag nach seinem Tod zur Rückzahlung fällig geworden wäre. Dieses Darlehen wurde marktüblich verzinst. F hat die anfallenden Zinsen stets fristgerecht gezahlt. Des Weiteren verfügte E über Bar- bzw. Wertpapiervermögen in der Größenordnung von 0,5 Mio. EUR. Hierin nicht enthalten ist ein Aktienpaket an der Kapital AG. Der Kurswert dieses Aktienpakets belief sich am 2.5.2022 auf 200.000 EUR, am 3.5.2022 auf 220.000 EUR und am 4.5.2022 auf 230.000 EUR und heute wieder auf 200.000 EUR. Auf einem gemeinsamen Bankkonto von E und F befand sich am Todestag ein Guthaben in Höhe von 100.000 EUR. Dieses Bankkonto wurde von den Eheleuten zur Bestreitung des gemeinsamen Lebensunterhalts geführt; ob E oder F höhere Einzahlungen auf dieses Konto geleistet hatte, ist nicht bekannt. Im Rahmen einer vollentgeltlichen Immobilienübertragung im Jahr 2017 hat E sich einen Quotennießbrauch vorbehalten, der sich auf 50 % der Nettoerträge (nach Abzug von Bewirtschaftungs-, Instandhaltungskosten und Ähnlichem) des Objekts bezieht. Die jährlichen Nettoerträge belaufen sich auf 100.000 EUR. Im Zeitpunkt des Abschlusses des Kaufvertrages war E 51 Jahre alt. Schließlich verfügte E über Immobilienbesitz, der einen Verkehrswert in der Größenordnung von ca. 3,0 Mio. EUR aufweist. Einige der Immobilien waren bzw. sind jedoch fremdfinanziert. Die in diesem Zusammenhang bestehenden Verbindlichkeiten belaufen sich auf ca. 2,8 Mio. EUR, von denen 830.000 EUR durch eine zur Sicherung an die kreditgewährende Bank abgetretene Lebensversicherung des E abgesichert sind. Weitere Schulden sind nicht vorhanden. Auch sonstiges Sachvermögen besaß E nicht, da er nach der Trennung von M unter Zurücklassung seiner gesamten Habe in die Wohnung der F gezogen war.
Zu seinen Lebzeiten hat E folgende Zuwendungen ausgeführt:
Y und Z schenkte E jeweils zum Bestehen des Abiturs (jeweils mehr als zehn Jahre vor dem Tod des E) eine ausgedehnte Fernreise. Da E sämtliche in diesem Zusammenhang anfallende Kosten übernahm, belief sich der Aufwand jeweils (inflationsbereinigt auf den Todestag) auf 20.000 EUR.
Die Tochter X hat kurz nach ihrem 18. Geburtstag, also vor etwas mehr als zehn Jahren, die Schule abgebrochen, um einen Handwerksberuf zu erlernen. Da sich ihre Ausbildungsstelle in einiger Entfernung zum Wohnort befand, bezahlte ihr Vater (E) ihr ein Auto, dessen Eigentümerin X wurde und das erst wenige Wochen vor dem Tod des E einen Totalschaden erlitt. Bereinigt um die zwischenzeitlich eingetretene Geldentwertung repräsentierte dieses Fahrzeug eine Zuwendung im Wert von 20.000 EUR. X hatte sich zunächst dagegen gesträubt, besser gestellt zu werden als ihre Brüder, die ihr erstes Auto jeweils selbst bezahlen mussten. E hatte sie dann aber beruhigt, indem er sagte, dieser Vorteil solle später, also nach seinem Tod, "glatt gezogen" werden.
Nach der Scheidung von M (dieser stand kein Anspruch auf nachehelichen Unterhalt zu) wollte E deren Lebensunterhalt und Versorgung absichern. Aus diesem Grund schenkte er ihr am 2.5.2017 das bislang gemeinsam bewohnte Wohnhaus (Wert im Zeitpunkt der Schenkung: 1 Mio. EUR; Wert am Todestag 800.000 EUR).
Auch F wurde von E beschenkt, und zwar im Jahr 2019. Sie erhielt einen Geldbetrag in Höhe von 100.000 EUR (bereinigt um die Geldentwertung: 110.000 EUR), den sie zur Anschaffung eines Sportwagens und einiger Schmuckstücke verwendete (Zeitwert sämtlicher Anschaffungen am Todestag noch 60.000 EUR).
Frage:
F hat die Erbschaft bereits angenommen, sie möchte nunmehr wissen, wer ihr gegenüber (noch) welche Ansprüche geltend machen kann und welche Beträge den einzelnen Anspruchsinhabern zustehen.
Hinweise für den Bearbeiter:
Verfass...