Entscheidungsstichwort (Thema)
Tariffähigkeit. Arbeitnehmerüberlassung. soziale Mächtigkeit
Leitsatz (amtlich)
1. Die Tariffähigkeit einer Spitzenorganisation nach § 2 Abs. 3 TVG kann sich entweder aus der Tariffähigkeit aller seiner Mitgliedsorganisationen ergeben oder die Spitzenorganisation selbst kann die Voraussetzungen der Tariffähigkeit erfüllen.
2. Für die Tariffähigkeit einer Spitzenorganisation auf Arbeitnehmerseite selbst ist zu verlangen, dass sie in entsprechender Weise die Anforderungen erfüllt, wie sie an die Tariffähigkeit einer einzelnen Gewerkschaft gestellt werden. Daraus folgt, dass eine Spitzenorganisation nicht tariffähig ist, wenn sie nicht über eine ausreichende soziale Mächtigkeit verfügt, wie sie auch eine Einzelgewerkschaft aufweisen muss, um tariffähig zu sein.
3. Im Bereich der gewerblichen Arbeitnehmerüberlassung folgt aus einer Vielzahl abgeschlossener Tarifverträge nicht schon die Indizwirkung der sozialen Mächtigkeit im Sinne des Tarifrechts. Denn in § 9 Nr. 2 des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes (AÜG) in der ab dem 01.01.2003 gültigen Fassung ist geregelt, dass Leiharbeitnehmer grundsätzlich hinsichtlich der Vergütung und der sonstigen Arbeitsbedingungen mit den Stammarbeitnehmern des Entleiherbetriebes gleich zu behandeln sind (sog. Equal-Pay / Equal-Treatment), es sei denn, Tarifverträge lassen abweichende Regelungen zu. Es ist mithin möglich, den gesetzlich vorgegebenen Standard des „Equal Pay / Equal Treatment” durch Tarifverträge abzusenken. Allein der Abschluss von Tarifverträgen nach dem Inkrafttreten der Neufassung des § 9 Nr. 2 AÜG kann daher nicht per se als Indiz für die Durchsetzungsfähigkeit einer Arbeitnehmerorganisation im Bereich der Arbeitnehmerüberlassung gewertet werden.
4. Die Durchsetzungsfähigkeit einer Spitzenorganisation, die nach ihrer Satzung ausschließlich tätig ist im Bereich der Arbeitnehmerüberlassung, kann sich zwar auch aufgrund anderer Kriterien ergeben, nämlich insbesondere aufgrund der Vielzahl der mittelbar durch ihre Mitgliederorganisationen vertretenen Leiharbeitnehmer und aufgrund einer durchsetzungsfähigen Organisationsstruktur im Bereich der Arbeitnehmerüberlassung. Im vorliegenden Streitfall waren diese Kriterien jedoch nicht erfüllt.
Normenkette
TVG § 2 Abs. 3; GG Art. 9 Abs. 3; ArbGG § 97 Abs. 1; AÜG § 9 Nr. 2
Verfahrensgang
Nachgehend
Tenor
1. Auf den Antrag der Beteiligten zu 2) wird festgestellt, dass die Tarifgemeinschaft Ch. Gewerkschaften für Zeitarbeit und Personalserviceagenturen nicht tariffähig ist.
2. Die Anträge d. Bet. zu 1) und 4) werden als unzulässig zurückgewiesen.
Tatbestand
I.
Die Beteiligten streiten im vorliegenden Beschlussverfahren nach § 97 Abs. 1 ArbGG über die Tariffähigkeit der Beteiligten zu 3).
Die Beteiligte zu 1) ist eine Gewerkschaft, deren Organisationsgebiet sich gemäß § 2 der von ihr eingereichten Satzung, zuletzt geändert am 12./14. März 2008, auf die Bundesrepublik Deutschland erstreckt.
In § 4 dieser Satzung bzw. in deren Anhang 1 heißt es auszugsweise:
„§ 4 Organisationsbereich
1. Der Organisationsbereich der ver.di umfasst Unternehmen, Betriebe, Einrichtungen und Verwaltungen der im Anhang 1 abschließend aufgeführten Bereiche sowie alle Mitglieder, die im Zeitpunkt der Eintragung der Verschmelzung zur ver.di Mitglied der DAG waren. Der Organisationsbereich schließt Nebenbetriebe sowie rechtlich ausgegliederte und selbständige – jedoch wirtschaftlich zugeordnete – Dienstleistungsbetriebe ein. Er erfasst auch ver.di und ihre Einrichtungen.
2. Das Nähere regelt der in Anhang 1 zu dieser Satzung aufgeführte Organisationskatalog, der Bestandteil dieser Satzung ist.
3. ver.di anerkennt die die satzungsrechtliche Funktion des DGB zur Klärung von Organisationszuständigkeiten zwischen dessen Mitgliedsgewerkschaften. (…)
Anhang 1
Organisationsbereich
1. Der Organisationsbereich von ver.di umfasst:
alle Arbeitnehmer (…) im Organisationsgebiet der ver.di in den folgenden Branchen, Wirtschaftszweigen und Berufen:
1.1 Postdienste, Postbank, und Telekommunikation
(…)
1.2 Handel, Banken, Versicherungen
1.2.1 Handel (…)
1.2.2 Bank-, Geld- und Börsenwesen (…)
1.2.3 Versicherungen (…)
1.2.4 Sonstiger privater Dienstleistungsbereich
Sonstige Unternehmen und Organisationen des Dienstleistungsbereichs einschließlich rechtlich ausgegliederter bzw. selbständiger, jedoch wirtschaftlich-organisatorisch zugeordneter Dienstleistungsbetriebe, z.B. Datenverarbeitung, Organisation, Verwaltung, Bildungseinrichtungen sowie ihre Verbände.
1.2.4.1 Wohnungswirtschaft, Städtebau und Grundstückswesen
(…)
1.2.4.2 Buchhandel und Verlage
(…)
1.2.4.3 Verleihwesen
Leasingunternehmen, Autoverleiher und sonstige Verleihunternehmen
1.2.4.4 Datenverarbeitung, DV und Organisationsberatung
1.2.4.5 Schreib- und Übersetzungsbüros
1.2.4.6 Parteien, Wirtschafts- und Fachverbände
(…)
1.2.4.7 Rechts-, Wirtschafts- und Steuerberatungen
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