Entscheidungsstichwort (Thema)
Streik. Friedenspflicht. Spartengewerkschaft. Tarifeinheit. Marburger Bund
Leitsatz (amtlich)
1. Streikmaßnahmen des Marburger Bundes gegen das klagende Krankenhaus sind rechtmäßig.
2. Eine Streik ausschließende Friedenspflicht besteht für den Marburger Bund nicht mehr. Der Marburger Bund hat die einschlägigen Tarifverträge mit Schreiben vom 21.12.2005 wirksam gekündigt. Dieses Schreiben ist dahingehend auszulegen, dass der Marburger Bund sämtliche eine Friedenspflicht auslösenden Tarifverträge gekündigt hat.
3. Der Marburger Bund war zur Kündigung berechtigt, da er sich im Zeitpunkt der Kündigung in keiner Tarifgemeinschaft mit ver.di befand. In Hinblick auf den Abschluss und die Kündigung von Tarifverträgen bestand lediglich eine Stellvertretungsregelung gegenüber der DAG und später ver.di. Diese Vollmacht ist bereits im Oktober 2005 widerrufen worden.
4. Die Vereinbarung zwischen ver.di und der VKA vom 09.02.2005 löst für den Marburger Bund keine Friedenspflicht aus, da sie nicht unterschrieben, sondern lediglich paraphiert ist.
5. Der Gesichtspunkt der Tarifeinheit ist ein untaugliches Mittel zur Begrenzung des Streikrechtes einer Gewerkschaft und hindert somit den Marburger Bund an einem Streik nicht.
6. Der Aspekt „Gefährdung des Gemeinwohles” führt grundsätzlich nicht zur Rechtswidrigkeit eines Ärztestreikes trotz Notfallpläne.
7. Eine etwaige Bestandsgefährdung des antragenden Krankenhauses schließt nicht grundsätzlich sämtliche Streikmaßnahmen des Marburger Bundes aus.
Normenkette
GG Art. 9 Abs. 3; TVG § 1 Abs. 1-2
Tenor
1. Die Anträge werden abgewiesen.
2. Die Verfügungsklägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits.
3. Der Berufungswert wird auf 250.000,– EUR festgesetzt.
Der Gebührenwert wird auf 416.000,– EUR festgesetzt.
Tatbestand
Die Parteien streiten im Rahmen einer einstweiligen Verfügung über die Unterlassung von Streikmaßnahmen seitens des Verfügungsbeklagten bzw. dessen Mitglieder gegenüber der Verfügungsklägerin sowie die Androhung von Ordnungsgeld.
Der Verfügungsbeklagte ist der Landesverband in Schleswig-Holstein des bundesweit organisierten Marburger Bundes. Dieser ist die berufspolitische und gewerkschaftliche Vertretung der angestellten und beamteten Ärztinnen und Ärzte und Interessenvertretung der Medizinstudenten in Deutschland. Er bezweckt die Wahrung der beruflichen, sozialen und wirtschaftlichen Belange seiner Mitglieder unter Zugrundelegung der ärztlichen Berufsauffassung. Er verfügt über mehr als 105.000 Mitglieder. Mehr als 65 % der in öffentlichen Krankenhäusern beschäftigten Ärztinnen und Ärzte gehören dem Marburger Bund an. Der Bundesverband koordiniert die Arbeit der Landesverbände, u. a. auch die des Verfügungsbeklagten und betreibt bundesweit Informations-, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit sowie Tarifpolitik. Ihm obliegt insbesondere, die Arbeitsbedingungen der angestellten Ärzte durch Tarifverträge und sonstige Vereinbarungen mit Arbeitgebern und Arbeitgeberverbänden zu regeln.
Die Verfügungsklägerin ist Mitglied im Kommunalen Arbeitgeberverband Schleswig-Holstein. Dieser Verband ist seinerseits Mitglied der Vereinigung der Kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA). Die VKA ist der Dachverband der Kommunalen Arbeitgeberverbände Deutschlands, der für diese die Tarifverträge für den kommunalen öffentlichen Dienst auf Bundesebene als Tarifvertragspartei auf Arbeitgeberseite abschließt.
Bis 1976 hat der Marburger Bund die Tarifverträge im öffentlichen Dienst nicht selbst unterzeichnet, sondern schloss Anschlusstarifverträge ab, so den Anschlusstarifvertrag vom 30.03.1961 sowie den Anschlusstarifvertrag vom 10.09.1975. Die Änderungstarifverträge zum BAT sowie die den BAT ergänzenden Tarifverträge hat der Marburger Bund ebenfalls nicht unterzeichnet, sondern entsprechende Anschlusstarifverträge abgeschlossen. Der Anschlusstarifvertrag vom 10.09.1975 lautet auszugsweise wie folgt:
„…
§ 1
Die Tarifvertragsparteien schließen einen Tarifvertrag gleichen Inhalts ab, wie er zwischen der Bundesrepublik Deutschland, der Tarifgemeinschaft deutscher Länder und der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände einerseits sowie der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr und der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft andererseits als
- Einunddreißigster Tarifvertrag zur Änderung und Ergänzung des Bundes-Angestelltentarifvertrages am 18. Oktober 1973,
- Zweiunddreißigster Tarifvertrag zur Änderung und Ergänzung des Bundes-Angestelltentarifvertrages am 16. März 1974
jeweils vereinbart worden ist und wie sie diesem Tarifvertrag als Anlagen beigefügt sind.
§ 2
Dieser Tarifvertrag kann mit einer Frist von einer Woche zum Monatsschluss gekündigt werden. Er tritt ferner außer Kraft, wenn die als Anlagen beigefügten Tarifverträge außer Kraft treten. In beiden Fällen wird die Nachwirkung des Tarifvertrages gemäß § 4 Abs. 5 des Tarifvertragsgesetzes ausgeschlossen. …”
Seit dem 29.11.1976 hat der Marburger Bund als „Tarifgemeinschaft für Angestellte im öffentlichen Dienst” zusammen ...