Die Rechtsanwendung sowohl bei tariflichen als auch bei einzelvertraglichen Ausschlussfristen steht wie die Ausübung jeder Rechtsposition unter dem Vorbehalt von Treu und Glauben. Wann ein Verhalten eines Schuldners als unzulässige Rechtsausübung oder als arglistig anzusehen ist, kann aber nicht generell, sondern nur im Einzelfall beurteilt werden.
Da Ausschlussfristen grundsätzlich auch dann gelten, wenn eine oder beide Parteien des Arbeitsvertrags keine Kenntnis vom Fristlauf haben, ist es nicht als Verstoß gegen Treu und Glauben anzusehen, wenn in diesem Fall die andere Vertragspartei die Erfüllung des Anspruchs unter Hinweis auf die Ausschlussfrist verweigert. Aus diesem Grund dürfte es gleichfalls unerheblich sein, ob ein ausländischer Arbeitnehmer wegen fehlender Sprachkenntnisse Inhalt und Bedeutung einer Ausschlussfrist erkannt hat bzw. erkennen konnte. Ebenfalls nicht als treuwidriges Verhalten hat es das BAG bisher angesehen, wenn der Arbeitgeber entgegen § 8 TVG den Tarifvertrag im Betrieb nicht ausgelegt hat und der Arbeitnehmer von einer tariflichen Ausschlussfrist keine Kenntnis hatte. Dies gilt gleichermaßen, wenn der Arbeitnehmer seinen Anspruch nicht formgerecht geltend macht und vom Arbeitgeber auf die Geltung einer besonderen Form für die Einhaltung der Ausschlussfrist nicht hingewiesen wird. Allerdings kann ein fehlender oder fehlerhafter Hinweis auf den anwendbaren Tarifvertrag und eine daraus folgende Versäumung der Verfallfrist zu Schadensersatzansprüchen führen.
Die Berufung auf eine Ausschlussfrist ist dem Anspruchsgegner dann nicht möglich, wenn sich der daraus ergebende Anspruchsverlust als eine nach § 242 BGB unzulässige Rechtsausübung darstellen würde. Dies kann dann der Fall sein, wenn die Untätigkeit des Gläubigers durch ein zurechenbares Verhalten des Schuldners veranlasst worden ist, der Gläubiger muss also den Schuldner von der Anspruchserhebung und der damit verbundenen Einhaltung der Verfallfrist abgehalten haben. Das BAG hat bisher in folgenden Fallgestaltungen ein treuwidriges Verhalten des Schuldners anerkannt:
- Der Schuldner erweckt durch sein Verhalten beim Gläubiger den Eindruck, er werde die Schuld auch ohne formgerechte Geltendmachung erfüllen, z. B. durch Aushändigung einer Vergütungsabrechnung oder eines Auszugs aus dem Arbeitszeitkonto.
- Der Schuldner hält den Gläubiger von der form- und fristgerechten Geltendmachung ab, was naturgemäß voraussetzt, dass der Anspruch zum Zeitpunkt der treuwidrigen Handlung nicht bereits verfallen ist.
- Der Arbeitgeber entlohnt seine Arbeitnehmer vorsätzlich untertariflich.
- Der Schuldner erschwert dem Gläubiger durch aktives Tun oder vorsätzliches Unterlassen die Einhaltung der Ausschlussfrist oder macht diese unmöglich.
- Der Gläubiger verschweigt dem Schuldner die zur Durchsetzung eines Gegenanspruchs notwendigen Angaben, etwa bei Schadensersatzansprüchen oder Überzahlung von Vergütung; allerdings steht der Einwand des Rechtsmissbrauchs gegenüber dem Ablauf der Ausschlussfrist dem Verfall des Rückzahlungsanspruchs nur solange entgegen, wie der Arbeitgeber aufgrund des rechtsmissbräuchlichen Verhaltens des Arbeitnehmers von der Einhaltung der Ausschlussfrist abgehalten wird.
Vor diesem Hintergrund ist zu beachten, dass selbst ein treuwidriges Verhalten des Schuldners eine spätere formgerechte Geltendmachung nicht ersetzt. Nach Wegfall des Hinderungsgrundes für die Geltendmachung (Erkennen der Leistungsablehnung) läuft dann u. U. nur noch eine kurze, nach Treu und Glauben zu bestimmende Frist für die Geltendmachung.
Treuwidriges Verhalten des Arbeitgebers
Der Arbeitnehmer verlangt mündlich vom Arbeitgeber rechtzeitig den Ausgleich von Mehrarbeitsstunden. Der Arbeitgeber erklärt ihm, "er brauche sich keine Sorgen um sein Geld zu machen." Der Arbeitnehmer unterlässt daraufhin die formgerechte Anspruchserhebung. Später erklärt der Arbeitgeber, er werde wegen des Fristablaufs den Anspruch nicht mehr erfüllen. Hier hat der Arbeitgeber den Arbeitnehmer treuwidrig von der Geltendmachung abgehalten, allerdings muss der Arbeitnehmer nunmehr unverzüglich seinen Anspruch in der notwendigen Form gegenüber dem Arbeitgeber geltend machen. Hier kann sich der Arbeitgeber dann wegen seines treuwidrigen Verhaltens nicht auf den zwischenzeitlich eingetretenen Fristablauf berufen.