Detlef Burhoff, Thomas Hillenbrand
Das Wichtigste in Kürze:
1. |
Gem. § 77 OWiG bestimmt das Gericht den Umfang der Beweisaufnahme unbeschadet der Vorschrift des § 244 Abs. 2. |
2. |
Die Beweisaufnahme (§§ 244 – 257) ist im Bußgeldverfahren teilweise anders gestaltet als im Strafverfahren. |
3. |
Für die Verlesung von Schriftstücken und Protokollen gelten grds. die allgemeinen Regeln der §§ 249 ff. Besonderheiten ergeben sich aus §§ 78 f. OWiG. |
4. |
Auch im Bußgeldverfahren gilt die Widerspruchslösung des BGH. |
5. |
Für im Bußgeldverfahren gestellte Beweisanträge gelten hinsichtlich Inhalt, Form usw. die allgemeinen Regeln. |
6. |
In § 77a OWiG ist die Möglichkeit einer vereinfachten Art der Beweisaufnahme vorgesehen. |
7. |
Nach § 78 Abs. 1 OWiG kann das Gericht, statt ein Schriftstück zu verlesen, dessen wesentlichen Inhalt bekannt geben, soweit es nicht auf den Wortlaut des Schriftstücks ankommt. |
Rdn 1576
Literaturhinweise:
S. die Hinw. bei → Bußgeldverfahren, Besonderheiten, Allgemeines, Teil B Rdn 1529.
Rdn 1577
1. Gem. § 77 OWiG bestimmt das Gericht den Umfang der Beweisaufnahme unbeschadet der Vorschrift des § 244 Abs. 2. Damit gilt grds. auch im Bußgeldverfahren der Grundsatz der Amtsaufklärung (VerfG BbG, Beschl. v. 18.2.2022 – VfGBbG 54/21, DAR 2022, 387 [Aufklärungspflicht beim standardisierten Messverfahren]; OLG Brandenburg NZV 2013, 49; VRR 2012, 396 m. Anm. Burhoff; OLG Celle NJW 2010, 3794; OLG Hamm VRR 2010, 474). Den Betroffenen trifft also keine Darlegungs- oder Beweislast (Göhler/Bauer, § 77 Rn 2 ff. m.w.N.; aber KG, Beschl. v. 27.4.2020 – 3 Ws (B) 49/20, NZV 2020, 597 [Ls.] zur Erforderlichkeit weiterer Ermittlungen zu den wirtschaftlichen Verhältnisse des abwesenden Betroffenen). Bei der Bestimmung des Umfangs der Beweisaufnahme hat das Gericht aber kein freies Ermessen, vielmehr muss es nach § 77 Abs. 1 S. 2 OWiG die Bedeutung der Sache berücksichtigen, z.B. bei einem Verkehrsunfall die Höhe des Sachschadens (Einzelh. bei Göhler/Bauer, § 77 Rn 4 ff. m.w.N.) oder auch die Höhe der Geldbuße (BGH, Beschl. v. 9.10.2018 – KRB 60/17, NZKart 2019, 155 für Geldbuße von 7 Mio. EUR). Zudem kann die Möglichkeit, einen (präsenten) Zeugen sofort zu vernehmen – auch wenn § 245 Abs. 2 im Bußgeldverfahren unanwendbar ist – ein Umstand sein, der für die Reichweite der Aufklärungspflicht des Tatrichters bedeutsam und bei der Ermessensausübung nach § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG zu berücksichtigen ist (BGH, a.a.O.).
Rdn 1578
2. Die Beweisaufnahme (§§ 244 – 257) ist im Bußgeldverfahren teilweise anders gestaltet als im Strafverfahren, und zwar:
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Zu § 244 ergeben sich Abweichungen aus § 77 OWiG (s. Teil B Rdn 1565). |
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§ 245 (→ Präsentes Beweismittel, Teil P Rdn 2547) gilt nicht (Göhler/Bauer, § 77 Rn 57). |
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§ 247 (→ Entfernung des Angeklagten aus der Hauptverhandlung, Teil E Rdn 1796) findet hingegen Anwendung. |
Rdn 1579
3. Für die Verlesung von Schriftstücken und Protokollen gelten grds. die allgemeinen Regeln der §§ 249 ff. (→ Verlesung von Protokollen, Allgemeines, Teil V Rdn 3586, m.w.N.), allerdings mit Besonderheiten aus den §§ 78 f. OWiG. Im Einzelnen:
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Grds. gilt für die Verlesung von Schriftstücken, soweit nicht § 77a OWiG Anwendung findet (Teil B Rdn 1575), auch § 249 Abs. 1 (→ Urkundenbeweis, Allgemeines, Teil U Rdn 3253 m.w.N.; zur Verlesung von Angaben des Verteidigers → Bußgeldverfahren, Besonderheiten, Vorbereitung/Gang der Hauptverhandlung, Teil B Rdn 1592; → Bußgeldverfahren, Besonderheiten, Anwesenheit des Betroffenen, Teil B Rdn 1543). Messprotokolle sind Urkunden, müssen also in der HV verlesen werden. Auf sie kann daher dann auch nicht gem. § 267 Abs. 1 S. 3 im Urteil Bezug genommen werden (BayObLG, Beschl. v. 31.1.2022 – 202 ObOWi 106/22, NStZ 2023, 320; KG, Beschl. v. 17.6.2021 – 3 Ws (B) 144/21 [möglichst Datenzeile verlesen]; OLG Bamberg zfs 2015, 49; Beschl. v. 7.8.2017 – 3 Ss OWi 996/17, NStZ-RR 2018, 89 [Ls.]; Beschl. v. 7.3.2018 – 3 Ss OWi 284/18, DAR 2018, 279; OLG Brandenburg NStZ 2005, 413; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 23.3.2018 – 3 RBs 54/18, DAR 2018, 387 [Einnahme des Augenscheins reicht nicht]; OLG Hamm NStZ-RR 2009, 151; Beschl. v. 11.5.2017 – 4 RBs 152/17; Beschl. v. 9.3.2021 – 4 RBs 44/21, zfs 2021, 531; OLG Jena VRS 114, 37; Beschl. v. 27.2.2020 – 5 RBs 63/20, VA 2020, 107; OLG Koblenz zfs 2014, 171; OLG Schleswig zfs 2014, 413; wegen weit. Nach. Burhoff/Burhoff, OWi Rn 2388, 3756). |
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§ 249 Abs. 2 (→ Urkundenbeweis, Selbstleseverfahren, Teil U Rdn 3284) wird insgesamt durch § 78 OWiG verdrängt (Göhler/Seitz, § 77a Rn 1a). |
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Soweit auf der Grundlage des § 77a OWiG eine Verlesung von Protokollen über die Vernehmung von Zeugen, SV und Mitbetroffenen nicht erlaubt ist, gilt nach § 77a Abs. 4 S. 2 OWiG die Regelung des § 251 Abs. 1 Nr. 3 und 4, Abs. 2 Nr. 1 und 2, Abs. 3 und Abs. 4 auch im Bußgeldverfahren (Göhler/Bauer, § 71 Rn 38c m.w.N.; → Verlesung von Protokollen, Protokolle und Urkunden aller Art, Teil V Rdn 3626; → Verlesung von Protokollen, richterliche Vernehmungsprotokolle, Teil V Rdn 3657, → Verlesung von Protokollen, Verlesung ... |