Das Wichtigste in Kürze:

1. Das Gericht ist in seiner Beweiswürdigung frei und entscheidet nach seiner persönlichen Über­zeugung.
2. Die Beweiswürdigung ist fehlerhaft, wenn sie widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt.
3. Aus dem Schweigen des Angeklagten dürfen keinerlei nachteilige Schlüsse gezogen werden.
 

Rdn 1384

 

Literaturhinweise:

Brause, Zur Beweiswürdigungsproblematik in Freispruchfällen, NStZ 2010, 329

Franke, Die Beweiswürdigung in der Revision – insbesondere zur Abgrenzung von bedingtem Vorsatz zur Fahrlässigkeit, StraFo 2016, 269

Maier, Aussage gegen Aussage, NStZ 2005, 246

Miebach, Die freie richterliche Beweiswürdigung in der neueren Rechtsprechung des BGH, NStZ 2020, 72

2021, 403

Mosbacher, Die Abgrenzung von Verfahrens- und Sachrüge in der erweiterten Revision, StraFo 2021, 312

H. Schneider, Zur strafprozessualen Verwertbarkeit des Schweigens von Beschuldigten – Besonderer Teil, NStZ 2017, 126

s.a. die Hinweise bei → Revision, Begründung, Sachrüge, Teil B Rdn 2722.

 

Rdn 1385

1.a) Der Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung ist zentral für die Beweisaufnahme in der HV. Die Würdigung der Beweise i.S.d. § 261 ist eine ureigene Aufgabe des Tatrichters und eine einfachgesetzliche Ausprägung des Art. 97 GG (Unabhängigkeit der Richter). Grds. gibt es also keine gesetzlichen Vorgaben, wie z.B. die Bindung an gesetzliche Beweisregeln, die vorgeben, welche Wirkung ein Beweis hat oder ab wann eine Tatsache als bewiesen gilt. Das Gericht entscheidet die Schuldfrage des Angeklagten allein – nach den Grundsätzen der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit – nach seiner persönlichen Überzeugung (Meyer-Goßner/Schmitt § 261 Rn 11). Im Kern steht die Gewissheit von objektiven und subjektiven Umständen der Tat, von der das Tatgericht überzeugt sein muss (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt § 261 Rn 3; Miebach NStZ 2020, 72; 2021, 411).

 

Rdn 1386

b) Eine Schranke findet die freie Beweiswürdigung lediglich in Erfahrungssätzen und Denkgesetzen (Miebach NStZ 2021, 411). Denkgesetze – oder auch die Regeln der Logik – beanspruchen eine klare und folgerichtige Beweisführung (KK-Ott § 261 Rn 51). Hierunter fallen z.B. zirkelschlussartige Argumentationen. Es braucht eine klare, lückenlose und widerspruchsfreie Argumentation des Gerichts (Meyer-Goßner/Schmitt § 261 Rn 2a). Auch zählen zu den Regeln der Logik Rechenfehler und Begriffsverwechslungen (KK-Ott § 261 Rn 51.)

 

Rdn 1387

c) Eine weitere Einschränkung der freien richterlichen Beweiswürdigung findet durch die sog. Er­fahrungssätze statt. Dies sind "Einsichten und Regeln", die aus bestimmten Erfahrungen herrühren. Dies können allgemeine Lebenserfahrungen, wissenschaftliche Erkenntnisse oder auch empirische ­Befunde sein (vgl. KK-Ott § 261 Rn 52, auch BGHSt 6, 70 – z.B. der Vaterschaftstest als Bindung an wissenschaftliche Erkenntnisse). Möchte das Tatgericht von wissenschaftlichen Erkenntnissen abweichend entscheiden, muss es dies ausführlich begründen und zusätzlich anhand von anerkannten fachwissenschaftlichen Quellen belegen (KK-Ott § 261 Rn 53), da gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen grds. eine unbedingte Beweiskraft zukommt. Anders verhält es sich mit Erfahrungssätzen, die nicht auf wissenschaftlich fundierte Wahrscheinlichkeiten zurückzuführen sind. Diese entfalten keine Allgemeingültigkeit und deren Beweiswert ist als gewöhnlich einzustufen (KK-Ott § 261 Rn 54).

 

Rdn 1388

2. Die Beweiswürdigung setzt denklogisch ein Beweismittel voraus. Die Regeln der Beweisaufnahme sind in § 244 normiert. Hieraus leitet sich der numerus clausus der Beweismittel ab. Im Strengbeweisverfahren kennt die StPO grundsätzlich vier Beweismittel: den Zeugen, den Sachverständigen, die Inaugenscheinnahme und die Urkunde (vgl. a. Teil B Rdn 1391 ff.) Ob die Einlassung des Beschuldigten auch ein Beweismittel im Sinne der o.g. darstellt, ist umstritten. Zumindest bedarf es jedoch der Würdigung der Einlassung des Angeklagten – ebenso wie der Würdigung seines strafrechtlich relevanten Verhaltens bis zum Zeitpunkt der HV (Meyer-Goßner/Schmitt § 261 Rn 6a; → Beweisantrag, Allgemeines, Teil B Rdn 1054; → Beweisantrag, Ablehnungsgründe, Teil B Rdn 1015; → Beweisermittlungsantrag, Teil B Rdn 1220).

 

Rdn 1389

3.a) Die Beweisaufnahme ist das Kernstück der HV und dient der Wahrheitsfindung. Das Gericht ist aufgrund des Untersuchungsgrundsatzes von Amts wegen dazu verpflichtet die Wahrheit zu erforschen. Bereits aus § 261 lässt sich herleiten, dass es nicht immer einer Beweisaufnahme bedarf, vielmehr kann zur Verurteilung des Angeklagten auch sein in der Hauptverhandlung gemachtes Geständnis ausreichen, dieses ginge einer etwaigen Beweisaufnahme voraus (LR-Becker § 244 Rn 4, 9). Kommt es jedoch zur Beweisaufnahme wird zwischen der Beweisaufnahme im engeren und im weiteren Sinne unterschieden. Bei der Beweisaufnahme im weiteren Sinn handelt es sich um alle Handlungen, die das Gericht im Zuge der Hauptverhandlung vornimmt, um sich von dem entschei...

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