Entscheidungsstichwort (Thema)
Höhe der Gebühr nach § 23 Abs. 1 Satz 1 BRAGO. “Anhängigkeit” iSd. § 23 Abs. 1 Satz 3 BRAGO. Einbeziehung nicht anhängiger Ansprüche in einen Prozeßvergleich. Prozeßrecht. Gebührenrecht
Leitsatz (amtlich)
- Der Begriff “anhängig” in § 23 Abs. 1 Satz 3 BRAGO ist im allgemeinen zivilprozessualen Sinn zu verstehen.
- Für “mitverglichene”, vorher nicht “anhängig” gewesene Streitgegenstände fällt daher die erhöhte Gebühr nach § 23 Abs. 1 Satz 1 BRAGO an.
Orientierungssatz
- “Anhängig” im allgemeinen zivilprozessualen Sinn wird eine Klage mit ihrer Einreichung bei Gericht.
- Für § 23 Abs. 1 Satz 3 BRAGO gilt insoweit keine Einschränkung.
- Der Zweck des § 23 Abs. 1 Satz 3 BRAGO, die Bereitschaft des Rechtsanwalts zur Beilegung von Streitigkeiten durch Vergleich auch ohne Inanspruchnahme des Gerichts zu fördern, wird auch dann erreicht, wenn die erhöhte Gebühr nach § 23 Abs. 1 BRAGO auch für solche Ansprüche anfällt, die in einen gerichtlichen Vergleich einbezogen werden, ohne vorher anhängig gewesen zu sein.
Normenkette
BRAGO §§ 23, 23 Abs. 1
Verfahrensgang
Hessisches LAG (Beschluss vom 18.03.2002; Aktenzeichen 13 Ta 59/02) |
ArbG Gießen (Beschluss vom 15.01.2002; Aktenzeichen 5 Ca 473/01) |
Tenor
- Auf die Rechtsbeschwerde der Rechtsanwälte W… und A… wird der Beschluß des Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 18. März 2002 – 13 Ta 59/02 – teilweise aufgehoben.
Auf die Beschwerde der Rechtsanwälte W… und A… wird der Beschluß des Arbeitsgerichts Gießen vom 15. Januar 2002 – 5 Ca 473/01 – teilweise abgeändert.
Die Vergleichsgebühr nach §§ 11, 23 BRAGO wird statt auf 875,00 DM auf 1.202,50 DM nebst 16 % Mehrwertsteuer festgesetzt.
Im übrigen wird die Rechtsbeschwerde zurückgewiesen.
- Von den Kosten des Beschwerdeverfahrens tragen die Beschwerdegegnerin 7/8, die Beschwerdeführer 1/8.
- Streitwert: 231,31 Euro = 452,40 DM.
Tatbestand
I. Die Rechtsbeschwerdeführer (im folgenden: Antragsteller) haben als Prozeßbevollmächtigte der damaligen Klägerin und jetzigen Rechtsbeschwerdegegnerin (im folgenden: Antragsgegnerin) im Ausgangsrechtsstreit vor dem Arbeitsgericht an Abschluß und Protokollierung eines Vergleichs mitgewirkt. Der Vergleich wurde in der Güteverhandlung vor dem Arbeitsgericht geschlossen. Die Antragsgegnerin hatte mit ihrer Klage die Unwirksamkeit einer Kündigung geltend gemacht. Im Vergleich wurde die Beendigung des Arbeitsverhältnisses vereinbart; daneben regelten die Parteien weitere Punkte. Der Streitwert für die Klage wurde auf 14.100,00 DM und für den Vergleich auf 17.650,00 DM festgesetzt. Das Arbeitsgericht setzte auf Antrag der Antragsteller die Kosten gegen die Antragsgegnerin auf 1.903,46 DM = 973,22 Euro fest. Es legte für den Mehrvergleich eine 10/10 Vergleichsgebühr nach § 23 Abs. 1 Satz 3 BRAGO zugrunde und setzte als Protokollierungsgebühr nach § 32 Abs. 2 BRAGO einen Betrag von 70,00 DM an. Die Beschwerdeführer begehren, soweit im Rechtsbeschwerdeverfahren noch von Interesse, Festsetzung auf 1.204,55 Euro = 2.355,86 DM, hilfsweise auf 1.014,74 Euro = 1.984,66 DM. Sie sind der Auffassung, die Vergleichsgebühr betrage für den Mehrvergleich 15/10 nach § 23 Abs. 1 Satz 1 BRAGO. Außerdem betrage die Protokollierungsgebühr nach § 32 Abs. 2 BRAGO 132,50 DM.
Entscheidungsgründe
II. Die nach § 574 Abs. 1 Nr. 2 ZPO nF statthafte Rechtsbeschwerde ist zulässig und zum Teil begründet. Die Vergleichsgebühr für den Mehrvergleich beträgt nach § 23 Abs. 1 Satz 1 BRAGO 15/10 einer vollen Gebühr. Dagegen ist die vom Rechtspfleger vorgenommene Kürzung der Protokollierungsgebühr auf 70,00 DM nach § 13 Abs. 3 BRAGO gerechtfertigt.
1. Nach § 23 Abs. 1 Satz 1 BRAGO erhält der Rechtsanwalt für die Mitwirkung beim Abschluß eines Vergleichs 15/10 der vollen Gebühr. Dagegen verbleibt es nach § 23 Abs. 1 Satz 3 BRAGO bei der vollen (10/10) Gebühr, soweit über den Gegenstand des Vergleichs ein gerichtliches Verfahren anhängig ist; das gleiche gilt, wenn ein Verfahren über die Prozeßkostenhilfe anhängig ist.
a) Die Rechtsfrage, ob die 15/10-Vergleichsgebühr des § 23 Abs. 1 Satz 1 BRAGO auch dann anfällt, wenn in gerichtlichen Vergleichen Streitgegenstände geregelt werden, die bis dahin weder Gegenstand einer Klage noch eines Prozeßkostenhilfeverfahrens waren, ist umstritten.
aa) Das Landesarbeitsgericht meint, das Gesetz wolle in § 23 Abs. 1 BRAGO die unterlassene Inanspruchnahme des Gerichts gebührenrechtlich privilegieren. Im arbeitsgerichtlichen Verfahren bedeute jedoch das vielfach übliche “Mitvergleichen” bis dahin nicht streitgegenständlicher Forderungen eine nicht selten erhebliche Inanspruchnahme des Gerichts. Deshalb sei das § 23 Abs. 1 Satz 3 BRAGO zu entnehmende Begriffspaar “anhängig/nichtanhängig” durch teleologische Reduktion im Sinne von “gerichtlich/außergerichtlich” zu verstehen.
bb) Überwiegend vertreten die Gerichte und das Schrifttum – mit hier nicht in Betracht kommenden Modifikationen – die Auffassung, der Begriff “anhängig” in § 23 Abs. 1 Satz 3 BRAGO sei im allgemeinen zivilprozessualen Sinn zu verstehen (vgl. LAG Schleswig-Holstein 12. November 2001 – 1 Ta 138 b/01 – SchlHA 2002, 54; LAG Niedersachsen 27. Mai 1999 – 10 Ta 562/98 – JurBüro 1999, 585; LAG Baden-Württemberg 14. Juli 1995 – 1 Ta 37/95 – JurBüro 1995, 583; LAG Düsseldorf 10. Juni 1997 – 7 Ta 3/97 – LAGE BRAGO § 23 Nr. 4; Gerold/Schmidt-van Eicken BRAGO 15. Aufl. § 23 Rn. 40, 40a; N. Schneider MDR 1998, 197; Kreutzfeld FA 1999, 391; Enders JurBüro 2000, 574; ders. JurBüro 2001, 225). Anhängig seien eine Klage oder ein Prozeßkostenhilfeantrag mit Einreichung bei Gericht (vgl. Zöller/Greger ZPO 23. Aufl. § 253 Rn. 4). Deshalb falle für “mitverglichene”, bis dahin nicht im vorgenannten Sinn anhängige Streitgegenstände die erhöhte Gebühr nach § 23 Abs. 1 Satz 1 BRAGO an.
b) Der Senat schließt sich der letztgenannten Auffassung an. Sie hat die besseren Gründe für sich. Der Wortlaut des § 23 Abs. 1 Satz 3 BRAGO ist klar. Als Ausnahmevorschrift schließt er allein “anhängige” Streitgegenstände von der Gebührenprivilegierung aus. Anhängig ist eine Klage mit Einreichung bei Gericht (vgl. BGH 24. Januar 1952 – III ZR 196/50 – BGHZ 4, 328; 15. Januar 1982 – V ZR 50/81 – BGHZ 83, 12; Zöller/Greger aaO § 253 Rn. 4). Es ist nicht anzunehmen, daß der Gesetzgeber einen so zentralen Begriff wie den der Anhängigkeit eines Rechtsstreits versehentlich verwendet hat oder ihm einen vom üblichen Verständnis abweichenden Sinn hat beimessen wollen, ohne dies in irgendeiner Weise zum Ausdruck zu bringen. Auch der vom Gesetzgeber verfolgte Zweck, die Bereitschaft des Rechtsanwalts zur Beilegung von Rechtsstreitigkeiten ohne Inanspruchnahme des Gerichts zu fördern, verlangt entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts keine andere Beurteilung. Zum einen kann zwar das “Mitvergleichen” einen gewissen zusätzlichen Verhandlungsaufwand des Kammervorsitzenden erfordern; dies hat das Landesarbeitsgericht in den Mittelpunkt seiner Erwägungen gerückt. Nicht selten haben die Parteien sich aber auch schon vor der Verhandlung geeinigt und es geht in Wahrheit um die Protokollierung einer außergerichtlich aus Anlaß des Rechtsstreits bereits erarbeiteten Einigung. Häufig sind auch “mitverglichene” Ansprüche – entweder im Rechtssinne oder doch im Verständnis der Parteien – abhängig vom Ausgang des anhängig gewordenen Teils des Streits, so daß mit der Einigung über jenen Teil der Streit über diesen so gut wie erledigt ist. Ebenso kann es umgekehrt sein, daß erst durch die Einbeziehung nicht anhängiger – aber tatsächlich im Hintergrund wirksamer – Streitpunkte der anhängige Streit gütlich beigelegt werden kann. Schließlich wird das Gericht durch die Erledigung von bis dahin nicht anhängigen Streitpunkten auch dann entlastet, wenn der Vorsitzende einen zusätzlichen Schlichtungsaufwand betreibt. Denn mit einer ansonsten möglicherweise erfolgenden gesonderten klagweisen Geltendmachung der zusätzlichen Streitgegenstände würden nicht nur der Vorsitzende, sondern auch die Gerichtsorganisation in Anspruch genommen. Die hier vertretene Auffassung findet im übrigen ihre Bestätigung in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, der für im Berufungsverfahren “mitverglichene” Streitpunkte ohne weiteres 15/10 der vollen Gebühr ansetzt und lediglich die Erhöhung nach § 11 Abs. 1 Satz 4 BRAGO ablehnt (17. September 2002 – XI ZB 9/02 – NJW 2002, 3712).
c) Insoweit unterliegt der angefochtene Beschluß der Aufhebung (§ 577 Abs. 4 ZPO). Der Senat hatte in der Sache selbst zu entscheiden, weil die Sache zur Endentscheidung reif ist (§ 577 Abs. 5 ZPO).
2. Im übrigen ist die Rechtsbeschwerde unbegründet. Zu Recht hat das Arbeitsgericht nach § 32 Abs. 2 BRAGO iVm. § 13 Abs. 3 BRAGO die Gebühr für die Protokollierung des Mehrvergleichs nach § 32 Abs. 2 BRAGO, bei der es sich um die reduzierte Prozeßgebühr handelt, auf 70,00 DM festgesetzt. Zwar beträgt der Wert des Mehrvergleichs 3.550,00 DM, woraus an sich eine volle Gebühr von 265,00 DM anfällt. Indes ist die Prozeßgebühr nach § 13 Abs. 3 BRAGO durch die auf den Gesamtstreitwert von 17.650,00 DM entfallende Prozeßgebühr in Höhe von 875,00 DM begrenzt. Da die Kostenfestsetzung insoweit bereits 805,00 DM berücksichtigt hatte, konnte nur noch der Differenzbetrag von 70,00 DM angesetzt werden.
III. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 97, 92 ZPO.
Unterschriften
Rost, Eylert, Schmitz-Scholemann
Fundstellen
BB 2003, 1072 |
DB 2003, 1124 |
EBE/BAG 2003, 74 |
ARST 2004, 43 |
FA 2003, 177 |
JurBüro 2003, 361 |
NZA-RR 2003, 320 |
AA 2003, 120 |
AGS 2003, 346 |
ArbRB 2003, 141 |
BRAGOreport 2003, 133 |
KammerForum 2003, 269 |