Verfahrensgang
Tenor
1. Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Schleswig-Holstein vom 1. Oktober 1997 – 2 Sa 223/97 – aufgehoben.
2. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Elmshorn vom 13. März 1997 – 3 b Ca 10/97 – wird zurückgewiesen.
3. Der Kläger hat die Kosten der Berufung und der Revision zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall.
Der Kläger ist bei der Beklagten als Kolonnenführer tätig. Er erhält einen Gesamtstundenlohn von 28,44 DM brutto.
Der Kläger war im Oktober 1996 an acht Stunden arbeitsunfähig erkrankt. Die Beklagte leistete Entgeltfortzahlung in Höhe von 80 % seines Lohns. Der Kläger verlangt Fortzahlung in voller – rechnerisch unstreitiger – Höhe.
Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet der allgemeinverbindliche Bundes-Rahmentarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer des Gerüstbaugewerbes vom 27. Juli 1993 (RTV) Anwendung. Er enthält in § 4 Regelungen über „Arbeitsversäumnis und Arbeitsausfall; Überbrückungsgeld”. In ihrer im maßgeblichen Zeitraum geltenden Fassung vom 15. November 1995 lauten die Vorschriften auszugsweise wie folgt:
„1. Allgemeines
Grundsätzlich wird in Abweichung von § 616 BGB der Lohn nur für die wirklich geleistete Arbeitszeit gezahlt Hiervon gelten die folgenden Ausnahmen:
„1. Allgemeines
Grundsätzlich wird in Abweichung von § 616 BGB der Lohn nur für die wirklich geleistete Arbeitszeit gezahlt. Hiervon gelten die folgenden Ausnahmen:
2. Freistellung aus familiären Gründen
...
3. Bezahlte Freistellung aus besonderen Gründen
...
4. Unbezahlte Freistellung aus besonderen Gründen
...
5. Mitteilungspflicht bei Arbeitsbefreiung
...
6. Arbeitsausfall infolge zwingender Witterungsgründe
...
7. Arbeitsversäumnis bei Arbeitsunfähigkeit
Im Krankheitsfall gelten die Bestimmungen des Entgeltfortzahlungsgesetzes.
8. Arbeitsausfall aus betrieblichen Gründen
...”
Der Kläger hat die Ansicht vertreten, ihm stünden für die Zeit seiner Arbeitsunfähigkeit 100 % seines Lohns zu. § 4 Ziff. 7 RTV stelle eine statische Verweisung auf das Entgeltfortzahlungsgesetz in seiner Fassung vom 26. Mai 1994 dar. Darin sei die ungekürzte Entgeltfortzahlung vorgesehen.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 45,50 DM brutto nebst 4 % Zinsen seit dem 2. Januar 1997 zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, § 4 Ziff. 7 RTV verweise auf das Entgeltfortzahlungsgesetz in seiner jeweiligen Fassung.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat ihr stattgegeben. Mit ihrer Revision erstrebt die Beklagte die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Die Klageforderung besteht nicht. Die Höhe der dem Kläger zustehenden Lohnfortzahlung bestimmt sich nach § 4 Abs. 1 Satz 1 EFZG in der seit dem 1. Oktober 1996 (BGBl. I S. 1476) geltenden Fassung. Aus § 4 Ziff. 7 RTV folgt nichts anderes. Der Kläger hat Anspruch lediglich auf 80 % des ihm für die maßgebende regelmäßige Arbeitszeit zustehenden Arbeitsentgelts. In diesem Umfange hat die Beklagte Lohnfortzahlung unstreitig geleistet.
I. Durch das Entgeltfortzahlungsgesetz vom 26. Mai 1994 wurde die Vergütung im Krankheitsfalle für Arbeiter und Angestellte auf eine einheitliche gesetzliche Grundlage gestellt. Dabei blieb der Grundsatz der Fortzahlung des jeweils vollen Entgelts unverändert. Durch das Arbeitsrechtliche Beschäftigungsförderungsgesetz vom 25. September 1996 wurde die Höhe der Entgeltfortzahlung mit Wirkung vom 1. Oktober 1996 auf „80 vom Hundert des dem Arbeitnehmer bei der für ihn maßgebenden regelmäßigen Arbeitszeit zustehenden Arbeitsentgelts” herabgesetzt.
Bestehende tarifliche Regelungen sind durch das Gesetz vom 25. September 1996 nicht aufgehoben worden. Der Gesetzgeber wollte in bestehende Tarifverträge nicht eingreifen (BT-Drucks. 13/4612, B 1; Buchner, NZA 1996, 1177, 1179/80).
II. Das Landesarbeitsgericht hat die Grundlage für den Klageanspruch in § 4 Ziff. 7 RTV gesehen. Es hat angenommen, dort seien die Vorschriften des Entgeltfortzahlungsgesetzes in derjenigen Fassung für anwendbar erklärt worden, in welcher sie im Zeitpunkt der letzten Änderung des RTV am 15. November 1995 gegolten hätten. Der Auffassung des Landesarbeitsgerichts folgt der Senat nicht. Nach § 4 Ziff. 7 RTV „(gelten) im Krankheitsfall ... die Bestimmungen des Entgeltfortzahlungsgesetzes”. Diese Bestimmung stellt keine selbständige, d.h. von den jeweiligen Vorschriften des Entgeltfortzahlungsgesetzes unabhängige tarifliche Regelung der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall dar. Es handelt sich entweder um einen bloßen Hinweis auf das geltende Gesetzesrecht, bei dem schon jeglicher Normsetzungswille der Tarifvertragsparteien fehlt, oder es handelt sich zwar um eine Tarifnorm, die jedoch als dynamische Verweisung auch für die Tarifunterworfenen nur die jeweils geltenden gesetzlichen Vorschriften für anwendbar erklärt. Als Tarifnorm im Sinne einer statischen Verweisung auf die am 15. November 1995 geltenden Vorschriften des Entgeltfortzahlungsgesetzes kann § 4 Ziff. 7 RTV dagegen nicht verstanden werden. Dies ergibt die Auslegung der Bestimmung.
1. § 4 Ziff. 7 RTV, welche Bedeutung der Bestimmung auch zukommen mag, richtet sich nicht an die Tarifvertragsparteien selbst, sondern an die Tarifunterworfenen. Ihre Auslegung betrifft deshalb nicht den schuldrechtlichen, sondern den normativen Bereich des Tarifvertrags. Dessen Auslegung richtet sich nach den Grundsätzen der Gesetzesauslegung. Daß deren Anwendung voraussetze, es müsse die Normqualität der auszulegenden tariflichen Bestimmung bereits feststehen (so Menssen, AuR 1998, 234), ist nicht zutreffend. Es geht darum, wie Dritte - die Tarifunterworfenen und die Gerichte - die Tarifbestimmung zu verstehen haben. Die Frage nach ihrem Inhalt und die Frage danach, ob es sich um eine Norm handelt, lassen sich nicht trennen. Beide sind nach den Grundsätzen der Gesetzesauslegung zu beantworten (zutreffend Kamanabrou, RdA 1997, 22, 23).
Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrages hat vom Wortlaut und dem durch ihn vorgegebenen Wortsinn auszugehen. Ist der Wortsinn unbestimmt, ist darüber hinaus der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und der von ihnen beabsichtigte Sinn und Zweck der Tarifnormen zu berücksichtigen, soweit sie in den tariflichen Bestimmungen ihren Niederschlag gefunden haben. Ferner ist auf den tariflichen Gesamtzusammenhang abzustellen. Bleiben gleichwohl im Einzelfall noch Zweifel, so können die Gerichte ohne Bindung an eine bestimmte Reihenfolge auf weitere Kriterien zurückgreifen, etwa die Tarifgeschichte, die praktische Tarifübung und die Entstehungsgeschichte des jeweiligen Tarifvertrages (BAG in ständiger Rechtsprechung, vgl. Urteil vom 21. August 1997 - 5 AZR 517/96 - AP Nr. 98 zu § 616 BGB = NZA 1998, 211, m.w.N.; Urteil vom 24. April 1996 - 5 AZR 798/94 - AP Nr. 96 zu § 616 BGB).
2. Im Rahmen ihrer Rechtsprechung zur tariflichen Übernahme gesetzlicher Kündigungsfristen haben der Zweite und der Siebte Senat des Bundesarbeitsgerichts für tarifliche Verweisungen auf gesetzliche Vorschriften die Auslegungsregel entwickelt, im Zweifel seien diese Verweisungen - ebenso wie die wort- oder inhaltsgleiche Übernahme des Gesetzestextes - deklaratorisch. Wenn nicht gegenteilige Anhaltspunkte vorlägen, sei davon auszugehen, daß es den Tarifvertragsparteien lediglich darum gegangen sei, eine unvollständige Darstellung der Rechtslage zu vermeiden und die Tarifgebundenen im Interesse von Klarheit und Übersichtlichkeit möglichst umfassend zu unterrichten (BAGE 40, 102 = AP Nr. 133 zu § 1 TVG Auslegung; BAG Beschluß vom 28. Januar 1988 - 2 AZR 296/87 - AP Nr. 24 zu § 622 BGB; BAG Urteil vom 4. März 1993 - 2 AZR 355/92 - AP Nr. 40 zu § 622 BGB). Die Literatur hat sich dem Bundesarbeitsgericht für die Auslegung von Verweisungen - nicht so für die Auslegung von wörtlichen oder inhaltsgleichen Übernahmen des Gesetzestextes - im Ergebnis weitgehend angeschlossen (Buchner, NZA 1996, 1177, 1182; Kamanabrou, RdA 1997, 22, 27; Rieble, RdA 1997, 134, 140; Giesen, RdA 1997, 193, 201, Fußnote 93; K. Gamillscheg, Anm. zu BAG Urteil vom 5. Oktober 1995 - 2 AZR 1028/94 - SAE 1996, 274, 278; Bengelsdorf, Anm. zu BAG AP Nr. 48 zu § 622 BGB; Wiedemann, Anm. zu BAG AP Nr. 133 zu § 1 TVG Auslegung).
Auch der erkennende Senat ist der Rechtsprechung des Zweiten und Siebten Senats hinsichtlich der Auslegung tariflicher Verweisungen gefolgt (Urteil vom 16. Juni 1998 - 5 AZR 67/97 - zur Veröffentlichung vorgesehen). Mit einer Verweisung auf geltende - ohnehin anwendbare - gesetzliche Vorschriften bringen die Tarifvertragsparteien in aller Regel zum Ausdruck, daß nur das Gesetz und nicht der Tarifvertrag maßgeblich sein soll. Ob sich die Verweisung als bloßer Hinweis oder als Tarifnorm im Sinne einer dynamischen Verweisung darstellt, kann dabei im Einzelfall unterschiedlich zu beurteilen sein. Individualrechtlich sind die Rechtsfolgen die gleichen.
3. Nach Maßgabe dieser Grundsätze handelt es sich bei § 4 Ziff. 7 RTV nicht um eine selbständige Regelung und statische Verweisung. Es finden sich weder in der Regelung selbst noch an anderer Stelle des Tarifvertrags Anhaltspunkte dafür, daß auf das Entgeltfortzahlungsgesetz ausschließlich in seiner am 15. November 1995 geltenden Fassung verwiesen worden wäre.
a) Entgegen der Auffassung des Klägers läßt der Wortlaut der tariflichen Regelung letztlich keine Zweifel daran, daß in ihr auf das Entgeltfortzahlungsgesetz in seiner jeweils geltenden Fassung verwiesen worden ist. Selbst wenn zugunsten des Klägers angenommen wird, daß § 4 Ziff. 7 RTV überhaupt eine Tarifnorm und nicht nur einen bloßen Hinweis darstellt, sollen ihr zufolge im Krankheitsfall „die Bestimmungen des Entgeltfortzahlungsgesetzes” zur Anwendung gelangen. Von einer zeitlichen Einschränkung ist dabei keine Rede. Ohne nähere Kennzeichnung sind „die Bestimmungen” eines Gesetzes diejenigen, die aktuell gelten. Im Zeitpunkt der Arbeitsunfähigkeit des Klägers im Oktober 1996 vermochte ein Tarifanwender den Text des § 4 Ziff. 7 RTV nicht anders zu verstehen, als daß die Bestimmungen des Entgeltfortzahlungsgesetzes, wie sie zu eben diesem Zeitpunkt galten, zur Anwendung gelangen sollten. Für ein anderes Verständnis gibt es keine sprachliche Begründung.
b) Ein der sprachlichen Bedeutung des § 4 Ziff. 7 RTV entgegenstehender Wille der Tarifvertragsparteien ist nicht zu erkennen. Im RTV selbst sind Anhaltspunkte dafür, daß die Tarifvertragsparteien eine statische Verweisung auf das Entgeltfortzahlungsgesetz beabsichtigt hätten, nicht festzustellen. Eher gilt das Gegenteil. Die Tarifvertragsparteien haben an anderer Stelle ihre Absicht, auf eine zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt geltende Regelung Bezug zu nehmen, deutlich ausgedrückt. So lautet § 5 Ziff. 3.2.4 RTV: „Gerüstbau-Fachmonteure sind ... ferner Arbeitnehmer, die zum Zeitpunkt des Abschlusses dieses Rahmentarifvertrages als Gerüstbaumonteure gem. § 5 Ziff. 3.2.4 des Rahmentarifvertrages vom 11. Mai 1987 in der Fassung der Änderungstarifverträge vom 1. Juni 1990 und 2. Juli 1991 und des Rahmentarifvertrages (RTV-Ost) vom 9. Januar 1991 eingruppiert waren”. Hätten die Tarifvertragsparteien in § 4 Ziff. 7 RTV die Absicht verfolgt, auf die Bestimmungen des Entgeltfortzahlungsgesetzes in der Fassung zu verweisen, wie sie bei Abschluß des Änderungstarifvertrages vom 15. November 1995 galten, hätten sie dies, so darf gefolgert werden, ähnlich klar zum Ausdruck gebracht. Eine solche Absicht der Tarifvertragsparteien ergibt sich auch nicht aus dem Zusammenhang von § 4 Ziff. 7 MTV mit den übrigen Ziffern dieser Bestimmung. Zwar geht das Landesarbeitsgericht zutreffend davon aus, daß in den dort aufgeführten Fällen von Arbeitsversäumnis Entgeltfortzahlung zu 100 % geschuldet wird. Daraus folgt jedoch nicht, daß die Tarifvertragsparteien in Ziff. 7 nur eine statische Verweisung auf das Entgeltfortzahlungsgesetz gewollt haben können. Es zeigt nur, daß sie seinerzeit von einer Entgeltfortzahlung in voller Höhe ausgegangen sind. Daß - wie das Landesarbeitsgericht meint - auf diese Weise die Gesamtregelung des § 4 MTV „unausgewogen” werde, ist hinzunehmen. Auch der Gesetzgeber hat die Höhe der Entgeltfortzahlung nur für den Krankheitsfall herabgesetzt. Der ursprüngliche § 616 Abs. 1 BGB ist unverändert geblieben. Bei vorübergehender Dienstverhinderung ist das Entgelt in voller Höhe weiterzuzahlen, soweit nicht abweichende Vereinbarungen getroffen wurden. Die Tarifvertragsparteien haben die Möglichkeit, eine einheitliche Regelung für alle Fälle von Arbeitsversäumnis zu schaffen.
c) Der Kläger hat demgegenüber vorgebracht, es gebe keine Anhaltspunkte dafür, daß die Tarifvertragsparteien und insbesondere die vertragsschließende Gewerkschaft eine Regelung zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall hätten treffen wollen, die der seit Oktober 1996 geltenden gesetzlichen Regelung entspreche. Die auslegungserhebliche Frage ist jedoch nicht, ob die Tarifvertragsparteien im November 1995 auch dann einen bloßen Hinweis oder eine dynamische Verweisung auf das Gesetz vereinbart hätten, wenn sie vorausgesehen hätten, daß die Höhe der Entgeltfortzahlung gesetzlich auf 80 % herabgesetzt würde; vieles spricht dafür, daß die Frage in der Tat zu verneinen ist. Für die Auslegung bedeutsam ist nur die Frage, ob die Tarifvertragsparteien im November 1995 - im Text erkennbar - eine der festgestellten sprachlichen Bedeutung des § 4 Ziff. 7 RTV widersprechende Regelungsabsicht gehabt haben und in Wirklichkeit eine statische Verweisung auf das Entgeltfortzahlungsgesetz vereinbaren wollten. Für ein solches Auseinanderfallen von Regelungsinhalt und damaliger Regelungsabsicht sprechen keinerlei Umstände.
Unterschriften
Griebeling
Reinecke
Kreft
Heel
Rolf Steinmann
Fundstellen