Entscheidungsstichwort (Thema)

Fortgeltung tariflicher Kündigungsfristen nach der Neuregelung der gesetzlichen Kündigungsfristen durch das Kündigungsfristengesetz?

 

Normenkette

BGB § 622; EGBGB Art. 222; AGB-DDR § 55

 

Verfahrensgang

Sächsisches LAG (Urteil vom 24.01.1995; Aktenzeichen 7 Sa 698/94)

ArbG Leipzig (Urteil vom 26.04.1994; Aktenzeichen 9 Ca 11615/93)

 

Tenor

1. Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Sächsischen Landesarbeitsgerichts vom 24. Januar 1995 – 7 Sa 698/94 – aufgehoben.

2. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Leipzig vom 26. April 1994 – 9 Sa 11615/93 – teilweise abgeändert.

3. Es wird festgestellt, daß das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung vom 30. September 1993 nicht schon zum 30. November 1993, sondern erst zum 31. Januar 1994 beendet wurde.

4. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 1.152,– DM brutto zu zahlen.

5. Von den Kosten des ersten Rechtszugs trägt die Beklagte 3/4, der Kläger trägt 1/4. Die Kosten der Berufung und Revision trägt die Beklagte.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Zwischen den Parteien besteht Streit über die einschlägige Kündigungsfrist.

Der am 10. August 1957 geborene Kläger war seit 19. Juli 1982 bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängern beschäftigt.

Aufgrund beiderseitiger Verbandszugehörigkeit findet auf das Arbeitsverhältnis der Manteltarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer der Metall- und Elekroindustrie in Sachsen vom 1. April 1991 (im folgenden: MTV) Anwendung.

Der MTV enthält in § 8 folgende Regelungen:

  1. „Kündigungen müssen nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen erfolgen. Der Arbeitgeber hat von allen geplanten Entlassungen dem Betriebsrat so früh wie möglich Mitteilung zu geben, um mit ihm über Art und Umfang der beabsichtigten Maßnahmen zu beraten.
  2. (I) Die Kündigungsfrist beträgt mindestens 2 Wochen (entspricht § 55 (1) AGB-DDR).

    (II) Hat der Arbeitsvertrag in demselben Betrieb oder Unternehmen 5 Jahre bestanden, so erhöht sich für die Kündigung durch den Arbeitgeber die Kündigungsfrist auf einen Monat zum Monatsende, hat er 10 Jahre bestanden, erhöht sich die Kündigungsfrist auf 2 Monate zum Monatsende, hat er 20 Jahre bestanden, erhöht sich die Kündigungsfrist auf 3 Monate zum Ende des Kalendervierteljahres. Bei der Berechnung der Beschäftigungsdauer werden Zeiten, die vor der Vollendung des 25. Lebensjahres des Arbeitnehmers liegen, nicht berücksichtigt (entspricht § 55 (2) AGB-DDR).

    (III) Für die Kündigung des Arbeitsvertrages durch den Arbeitnehmer darf arbeitsvertraglich keine längere Frist vereinbart werden als für die Kündigung durch den Arbeitgeber (entspricht § 55 (4) AGB-DDR).

    (IV) Wird für das Tarifgebiet Bayern eine Neuregelung der Kündigungsfristen vereinbart, so gilt diese Regelung auch im Tarifgebiet Sachsen.

  3. Während der Probezeit kann das Arbeitsverhältnis beiderseits nach Maßgabe der für die Probezeit jeweils vereinbarten Kündigungsfrist gelöst werden. Ist keine Kündigungsfrist vereinbart, so gilt eintägige Kündigung zum Schluß des Arbeitstages.”

Zu Ziffern 1 und 3 enthält der MTV Anmerkungen, die wie folgt lauten:

„Zu Ziffer 1:

Unter „gesetzlichen Bestimmungen” im Sinne dieser Regelung sind die einschlägigen Bestimmungen des Betriebsverfassungs-, Schwerbehinderten-, Mutterschutz- und Kündigungsschutzgesetzes zu verstehen. Auf Satz 2 wird besonders hingewiesen.

Zu Ziffer 3:

Die Regelung der Ziff. 3 gilt für befristete wie für unbefristete Arbeitsverhältnisse. Die Kündigungsfrist ist zweckmäßigerweise in der Einstellungsvereinbarung schriftlich mit festzulegen. Wird von Satz 2 Gebrauch gemacht, so ist die Kündigung spätestens am Vortage auszusprechen; sie ist nur zum Schluß eines Arbeitstages zulässig.”

Mit Schreiben vom 30. September 1993, dem Kläger zugegangen am selben Tag, hat die Beklagte das Arbeitsverhältnis zum 30. November 1993 gekündigt.

Der Kläger hat die Auffassung vertreten, es müsse die Kündigungsfrist gemäß § 622 BGB n.F. zur Anwendung kommen und die Beklagte sei dann verpflichtet, ihm nach dem Tarifabkommen über die Absicherung eines Teiles eines 13. Monatseinkommens vom 7. März 1991 50 % eines Monatseinkommens zu gewähren.

Er hat beantragt,

  1. festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung vom 30. September 1993 nicht mit dem 30. November 1993 endete, sondern frühestens mit dem 31. Januar 1994;
  2. im Falle des Obsiegens zu 1. die Beklagte zu verurteilen, den Kläger über den 30. November 1993 hinaus weiter zu beschäftigen;
  3. im Falle des Obsiegens zu 1. die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 50 % des Monatsbruttoverdienstes als 13. Monatseinkommen zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie hat geltend gemacht, der MTV regele die Kündigungfristen eigenständig und bleibe insoweit auch nach der Neuregelung der gesetzlichen Kündigungsfristen durch das KündFG maßgeblich.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen.

Die Berufung des Klägers, mit der dieser seinen Antrag zu 2. nicht mehr weiterverfolgt und seinen Antrag zu 3. mit 1.440,– DM beziffert hat, hat das Landesarbeitsgericht zurückgewiesen.

Mit seiner vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision begehrt der Kläger weiterhin die Feststellung, das Arbeitsverhältnis habe frühestens mit dem 31. Januar 1994 geendet, sowie unter Beschränkung des Zahlungsantrags auf 1.152,– DM die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung eines anteiligen 13. Monatseinkommens.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist begründet. Einschlägig ist die Kündigungsfrist gemäß § 622 BGB n.F. in Verbindung mit Art. 222 EGBGB mit der Folge, daß dem Kläger auch das anteilige 13. Monatseinkommen in der noch begehrten Höhe zusteht.

I. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, § 8 Ziffer 2 II MTV regele die anwendbare Kündigungsfrist eigenständig und werde von § 622 BGB n.F. in Verbindung mit Art. 222 EGBGB nicht berührt. Entgegen der neueren Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts sei bei der inhaltlichen Übernahme gesetzlicher Kündigungsfristen in einen Tarifvertrag ein eigener Normsetzungswille nicht als Ausnahme anzusehen, denn die Gesetzeslage könne durchaus den Interessen beider Tarifvertragsparteien entsprechen. Im Geltungsbereich des vorliegenden MTV hätten die Tarifvertragsparteien den großen wirtschaftlichen Problemen im Rahmen einer wirtschaftlichen Neuorientierung mit anstehenden Entlassungen größeren Umfangs durch Vereinbarung relativ kurzer Kündigungsfristen Rechnung tragen wollen, was auch mit der Einräumung der Möglichkeit einer täglichen Kündigung während der Probezeit abweichend von § 55 AGB-DDR deutlich geworden sei. Zudem habe die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts gerade im Falle von Gesetzesänderungen zur Folge, daß für die Tarifunterworfenen nicht mehr, sondern weniger Klarheit über die anwendbaren Kündigungsfristen bestehe. Im übrigen ergebe vorliegend die Auslegung selbst bei Anwendung der abgelehnten Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, daß der MTV die Kündigungsfristen eigenständig regele. Zwar könnte der Klammerzusatz „entspricht der jeweiligen Vorschrift des § 55 AGB-DDR” für einen nur deklaratorischen Charakter der Regelung sprechen. § 8 Ziffer 2 IV MTV belege aber, daß die Tarifvertragsparteien eine Änderung der Kündigungsfristen erst bei einer Neuregelung der Kündigungsfristen im entsprechenden bayerischen MTV wollten. Eine Ablösung der sächsischen Kündigungsfristen durch die zu erwartende gesetzliche Neuregelung bei Weitergeltung konstitutiver Regelungen des bayerischen MTV hätte die geplante Anpassung in beiden Tarifgebieten gerade unterlaufen. Es könne nicht unberücksichtigt bleiben, daß die IG Metall noch in einem Schreiben an ihre Mitglieder vom 3. November 1993 zugegeben habe, daß die bisherige tarifliche Regelung auf der Basis des § 55 AGB-DDR trotz der gesetzlichen Neuregelung noch bis zu einer Neuregelung im bayerischen MTV weitergelte. Damit sei von einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum 30. November 1993 auszugehen, was zur Folge habe, daß mangels Fälligkeit zu diesem Zeitpunkt auch kein Anspruch auf ein anteiliges 13. Monatsgehalt bestehe.

II. Dem folgt der Senat nicht.

1. Zutreffend ist allerdings der Ausgangspunkt des Landesarbeitsgerichts, abweichende eigenständige tarifliche Regelungen der Kündigungsfristen seien durch das KündFG unberührt geblieben. Die Tariföffnungsklausel des § 622 Abs. 4 Satz 1 BGB n.F. ist nicht so zu verstehen, daß lediglich in künftigen Tarifverträgen von den gesetzlichen Kündigungsfristen abgewichen werden kann. Ansonsten wäre im KündFG eine Übergangsregelung nicht nur für allein den gesetzlichen Vorschriften unterfallende Arbeitsverhältnisse, sondern auch für bestehende Tarifverträge mit abweichenden eigenständigen Regelungen der Kündigungsfristen zu erwarten gewesen, welche gerade nicht erfolgt ist. Bestätigt wird dies durch die Gesetzesmaterialien (vgl. den Entwurf eines Gesetzes zur Vereinheitlichung der Kündigungsfristen von Arbeitern und Angestellten, RdA 1993, 169, 172 und BT-Drucks. 12/4902 S. 7). Die Fortgeltung verfassungskonformer eigenständiger Tarifregelungen wird auch in der bisherigen Senatsrechtsprechung (vgl. Urteil vom 10. März 1994 – 2 AZR 323/84 – C – AP Nr. 44 zu § 622 BGB, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen) vorausgesetzt und entspricht der – soweit ersichtlich – einhelligen Auffassung in der Literatur (vgl. Worzalla NZA 1994, 145, 147; Hromadka, BB 1993, 2372, 2375; Arbeitsrechtslexikon-Bengelsdorf Stand: Februar 1994, 252; Küttner/Eisemann, Personalhandbuch 1995, 251 Kündigungsfristen Rz 22).

2. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (vgl. BAGE 40, 102 = AP Nr. 133 zu § 1 TVG Auslegung; Urteil vom 23. September 1992 – 2 AZR 231/92 – n.v.; Urteil vom 16. September 1993 – 2 AZR 697/92 – AP Nr. 42 zu § 622 BGB, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen; Urteil vom 10. Mai 1994 – 3 AZR 721/93 – AP Nr. 3 zu § 1 Tarifverträge: Verkehrsgewerbe jeweils mit weiteren Nachweisen –) ist bei Tarifverträgen jeweils durch Auslegung zu ermitteln, inwieweit die Tarifvertragsparteien eine selbständige, d.h. in ihrer normativen Wirkung von der außertariflichen Norm unabhängige eigenständige Regelung treffen wollten. Dieser Wille muß im Tarifvertrag einen hinreichend erkennbaren Ausdruck gefunden haben. Das ist regelmäßig anzunehmen, wenn die Tarifvertragsparteien eine im Gesetz nicht oder anders enthaltene Regelung treffen oder eine gesetzliche Regelung übernehmen, die sonst nicht für die betroffenen Arbeitsverhältnisse gelten würde. Für einen rein deklaratorischen Charakter der Übernahme spricht hingegen, wenn einschlägige gesetzliche Vorschriften wörtlich oder inhaltlich unverändert übernommen werden. In einem derartigen Fall ist bei Fehlen gegenteiliger Anhaltspunkte davon auszugehen, daß es den Tarifvertragsparteien bei der Übernahme des Gesetzestextes darum gegangen ist, im Tarifvertrag eine unvollständige Darstellung der Rechtslage zu vermeiden. Sie haben dann die unveränderte gesetzliche Regelung im Interesse der Klarheit und Übersichtlichkeit deklaratorisch in den Tarifvertrag aufgenommen, um die Tarifgebundenen möglichst umfassend über die zu beachtenden Rechtsvorschriften zu unterrichten (zustimmend Hromadka, a.a.O.; Hergenröder, Anm. zu AP Nr. 40 zu § 622 BGB; Jansen, Anm. zu AP Nr. 42 zu § 622 BGB; Eisemann, a.a.O.). An dieser Rechtsprechung hält der Senat trotz der im Schrifttum geäußerten Kritik (vgl. Wiedemann, Anm. zu AP Nr. 133 zu § 1 TVG Auslegung; Bengelsdorf, NZA 1991, 121, 126 f.; Löwisch/Rieble, TVG, § 1 Rz 419; Creutzfeldt, AuA 1995, 87 ff.) aus folgenden Gründen fest:

a) Die Rechtsprechung steht nicht im Widerspruch zu der früheren Rechtsprechung des Ersten Senats des Bundesarbeitsgerichts (Urteil vom 5. März 1957 – 1 AZR 420/56 – AP Nr. 1 zu § 1 TVG Rückwirkung und Urteil vom 23. April 1957 – 1 AZR 477/56 – AP Nr. 1 zu § 1 TVG). Die Entscheidungen des Ersten Senats befassen sich überhaupt nicht mit der Frage, nach welchen Kriterien eigenständige Tarifvertragsregelungen von neutralen, bloß deklaratorischen Klauseln zu unterscheiden sind. Im Urteil vom 23. April 1957 wird zwar einzelfallbezogen angenommen, die Urlaubsregelung für die gewerblichen Arbeitnehmer der Metallindustrie und des Metallhandwerks in Hamburg vom 27. März 1951 sei eine eigenständige tarifliche Regelung, abstrakte Grundsätze zu den Unterscheidungskriterien werden aber nicht aufgestellt. Zudem betraf dieses Urteil eine besondere Fallgestaltung: Es ging darin um ein spezielles tarifliches Urlaubsabkommen mit spezifischen Kündigungsvorschriften, nicht um die Übernahme gesetzlicher Vorschriften in ein größeres Tarifwerk. Bei einem solch speziellen Tarifvertrag dürfte sich in der Tat ein Normsetzungswille der Tarifvertragsparteien manifestiert haben und zusätzliche Anhaltspunkte im Tarifvertrag für diesen Willen dürften entbehrlich sein, weil es insoweit ersichtlich nicht um die bloße vollständige Wiedergabe des für die Tarifunterworfenen geltenden Rechts im Zusammenhang mit sonstigen Tarifbestimmungen geht. Dagegen kann bei der Übernahme einzelner gesetzlicher Normen in einen umfangreichen Manteltarifvertrag durchaus ein Normsetzungswille der Tarifvertragsparteien fehlen, was – wie auch die Vertreter der Gegenmeinung einräumen (vgl. Löwisch/Rieble, a.a.O.) – im Einzelfall durch Auslegung zu ermitteln ist. Streit besteht letztlich nur darüber, von welcher Auslegungsregel ausgegangen werden muß.

b) Jedenfalls seit Festigung der kritisierten Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, d.h. spätestens seit der Entscheidung vom 28. Januar 1988 (– 2 AZR 296/87 – AP Nr. 24 zu § 622 BGB) spricht eine inhaltliche Übernahme gesetzlicher Regelungen in ein umfassenderers tarifliches Regelwerk gegen einen eigenen Normsetzungswillen der Tarifvertragsparteien, wenn diese einen Hinweis auf die gewollte Eigenständigkeit der Regelung unterlassen. Die Kenntnis der höchstrichterlichen Rechtsprechung kann nämlich von den Tarifvertragsparteien erwartet werden. Deshalb ist auch zu erwarten, daß die Tarifvertragsparteien jedenfalls bei neueren Tarifverträgen dafür Sorge tragen, daß ihr Normsetzungswille im Tarifvertrag einen deutlichen Niederschlag findet, wenn sie mit der partiellen Übernahme von Gesetzesrecht eine eigenständige Tarifregelung beabsichtigen (vgl. auch BAGE 38, 357, 361 = AP Nr. 40 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau). Entgegen der Auffassung von Creutzfeldt (AuA 1995, 87) bedarf dies keiner monströsen Vorspänne oder ausgefeilter Formulierungen. Schon die schlichte Einfügung „unabhängig von der gesetzlichen Regelung” oder „auch bei Änderung der gesetzlichen Regelung” würde z.B. genügen, ebenso eine kurze Anmerkung oder Protokollnotiz, die den Normsetzungswillen dokumentiert.

c) Dazu kommt, daß die tarifdispositive Gestaltung ansonsten zwingender Gesetze es den Tarifpartnern ermöglichen soll, aufgrund ihrer besonderen Sachkenntnis den Anforderungen der Branche entsprechende, vom Gesetz abweichende Regelungen zu treffen. Auch § 55 Abs. 3 AGB-DDR ließ nicht etwa schlechthin „eigenständige tarifliche Regelungen”, sondern ausdrücklich nur die Vereinbarung kürzerer als der in Abs. 2 genannten Kündigungsfristen durch Tarifvertrag zu. Ob daraus zu folgern wäre, daß die Tarifvertragsparteien dem Gesetz inhaltsgleiches Tarifrecht gar nicht als eigenständige Normen vereinbaren können, mag dahinstehen. Jedenfalls würde die Schaffung konstitutiver gesetzesgleicher Tarifnormen nur im Hinblick auf künftige Gesetzesänderungen Sinn machen, von denen bei Abschluß des Tarifvertrages aber noch gar nicht feststünde, ob und ggf. wie sie wiederum tarifdispositiv gestaltet sein werden. Ein solcher Wille der Tarifvertragsparteien müßte im Tarifvertrag selbst deutlich zum Ausdruck kommen, denn von der gesetzlichen Tariföffnungsklausel machen die Tarifvertragsparteien in solchen Fällen gerade keinen Gebrauch.

d) Mit dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Mai 1990 (– 1 BvL 3/85 – u.a. AP Nr. 28 zu § 622 BGB) läßt sich die Gegenmeinung, im Zweifel sei von der tariflichen Eigenständigkeit der übernommenen Gesetzesnorm auszugehen, nicht begründen. Der Beschluß sagt nichts darüber aus, unter welchen Voraussetzungen tarifliche Bestimmungen als eigenständige Normen angesehen werden können, sondern geht lediglich zutreffend davon aus, einzelne Tarifverträge würden § 622 Abs. 2 BGB a.F. entsprechende Regelungen enthalten. Daß § 622 Abs. 2 BGB a.F. entsprechende Tarifbestimmungen als eigenständige Regelungen gewollt sein können, wurde in der bisherigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts nicht in Zweifel gezogen, sondern mit der für notwendig erachteten Auslegung der einzelnen Tarifverträge gerade vorausgesetzt.

e) Auch das Argument, Tarifverträge seien Kompromißlösungen, wenn sich die Tarifvertragsparteien auf die Übernahme gesetzlicher Regelungen verständigten, wollten sie diese für die Zukunft tarifsicher gestalten, so daß sie Änderungen des Gesetzes überdauerten, überzeugt nicht. Der Kompromiß der Tarifvertragsparteien kann auch darin bestehen, auf eine eigene Regelung zu verzichten und lediglich aus Gründen der Vollständigkeit die gesetzliche Regelung im Tarifvertrag darzustellen.

f) Soweit eingewandt wird, die inhaltliche Aufnahme gesetzlicher Regelungen in einen Tarifvertrag müsse schon deshalb im Zweifel als eigene Normsetzung gewertet werden, weil nur eine solche Sicht der verfassungsrechtlich gesicherten Stellung der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände und ihrer Tarifautonomie gerecht werde, wird verkannt, daß diese Tarifautonomie auch die Freiheit beinhaltet, von einer eigenen Normsetzung abzusehen. Die Mißachtung eines solchen Willens der Tarifvertragsparteien wäre ebenso ein unzulässiger Eingriff in die Tarifautonomie wie umgekehrt die Mißachtung des Normsetzungswillens. In beiden Fällen ist das, was die Tarifvertragsparteien wollten, durch Auslegung der von ihnen vereinbarten Tarifbestimmungen zur Geltung zu bringen, soweit das Gesetz dies zuläßt. Der Hinweis von Bengelsdorf und Creutzfeldt (jeweils a.a.O.), die Tarifvertragsparteien verzichteten mit der Übernahme tarifdispositiver Gesetzesvorschriften auf die ihnen eingeräumte Möglichkeit der tarifvertraglichen Schlechterstellung der betroffenen Arbeitnehmer, ist zwar richtig, schließt es aber nicht aus, daß die Tarifvertragsparteien auf eine eigenständige Regelung überhaupt verzichten wollten.

g) Zutreffend ist zwar, daß die angegriffene Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts einen Vergleich der Tarifbestimmungen mit den einschlägigen gesetzlichen Regelungen erfordert. Creutzfeldt (AuA 1995, 87, 88) hat deshalb unter Hinweis auf Wiedemann/Stumpf (TVG, 5. Aufl., § 1 Rz 115) eingewandt, die Normadressaten könnten nicht danach unterscheiden, woher die Tarifvertragsparteien ihr Normgut beziehen, weshalb bei der Auslegung von Tarifverträgen und der Zuschreibung (oder Verneinung) von Normsetzungswillen der Vertragsparteien nicht auf Faktoren zurückzugreifen sei, die nicht unmittelbar aus dem Tarifvertragstext entnehmbar seien. Insoweit handelt es sich jedoch um einen Zirkelschluß, weil die Normqualität, die gerade geklärt werden soll, bereits vorausgesetzt wird. Es geht zunächst noch nicht um Normauslegung, sondern um die Vorstufe der Auslegung eines Tarifvertragstextes zur Feststellung oder Widerlegung der Normqualität. Dabei darf nicht die Unkenntnis der gesetzlichen Regelung bei den Adressaten unterstellt, sondern es muß im Gegenteil von deren Gesetzeskenntnis ausgegangen werden; die Adressaten des Tarifvertrags sind nämlich zugleich auch den allgemeinen Gesetzen unterworfen und jede rechtsstaatliche Ordnung geht davon aus, daß der Bürger die verfassungsgemäß beschlossenen und verkündeten Gesetze grundsätzlich zu kennen hat.

h) Zuzugeben ist allerdings, daß im Fall einer lediglich deklaratorischen Übernahme von gesetzlichen Regelungen in Tarifverträge die bezweckte Übersichtlichkeit und. Vollständigkeit verfehlt wird, wenn das Gesetz geändert oder für verfassungswidrig erklärt wird (vgl. LAG Köln Urteil vom 29. Mai 1991 – 5 Sa 3/91 – LAGE § 622 BGB Nr. 19; eingehend Creutzfeldt, a.a.O.). Dies ändert freilich nichts daran, daß im Fall der inhaltlichen Übernahme gesetzlicher Regelungen ein Normsetzungswille der Tarifvertragsparteien fehlen kann und daß dies dann aus Gründen der Tarifautonomie zu respektieren ist.

Der im eher seltenen Fall einer Gesetzesänderung entstehenden Unklarheit können die Tarifvertragsparteien relativ leicht entgegenwirken, sei es durch – wohl auf das Datum der Gesetzesänderung auch rückwirkend mögliche – Änderung des Tarifvertrages, die bei Einigkeit der Tarifvertragsparteien in der Regel weitaus rascher und mit geringerem Aufwand zu bewerkstelligen ist, als eine Gesetzesänderung im förmlichen Gesetzgebungsverfahren, sei es durch ein Rundschreiben an die Mitglieder, wie es im vorliegenden Zusammenhang die IG Metall in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen – allerdings im Sinne einer Fortgeltung des Tarifrechts – durch Schreiben vom 20. Oktober bzw. vom 3. November 1993 getan hat.

3. Vorliegend haben die Tarifvertragsparteien die im Tarifgebiet damals geltende gesetzliche Regelung der Kündigungsfristen des § 55 AGB-DDR inhaltlich übernommen, weshalb die Annahme einer eigenständigen Tarifregelung voraussetzen würde, daß ein evtl. Normsetzungswille der Tarifvertragsparteien im Tarifvertrag einen hinreichend erkennbaren Ausdruck gefunden hätte. Das ist entgegen der Ansicht des Landesarbeitsgerichts nicht der Fall.

a) Während § 8 Ziffer 2 MTV die Regelung der Kündigungsfristen aus § 55 AGB-DDR inhaltlich übernimmt, bedienen sich die Tarifvertragsparteien in der vorausgehenden Ziffer 1 und der zugehörigen Anmerkung der Verweisungstechnik. Daraus kann aber für eine Eigenständigkeit der Ziffer 2 nichts abgeleitet werden. Die in der Anmerkung zu Ziffer 1 in Bezug genommenen Gesetze gelten für das ganze Bundesgebiet, § 55 AGB-DDR galt dagegen nur in den neuen Bundesländern weiter. Schon dieser Unterschied kann ausschlaggebend für die unterschiedliche Vorgehensweise in den beiden genannten Ziffern des MTV gewesen sein, ohne daß damit gleichzeitig ein Unterschied hinsichtlich des Normsetzungswillens der Tarifvertragsparteien dokumentiert werden sollte. Es kommt hinzu, daß die in der Anmerkung zu Ziffer 1 genannten Gesetze zum Teil umfangreiche Kündigungsregelungen enthalten, die sich für eine inhaltliche Übernahme in den Tarifvertrag schlecht eignen, zum Teil geht es in diesen Gesetzen um spezielle Kündigungsschutzvorschriften, deren inhaltliche Wiedergabe im Tarifvertrag eher verzichtbar erscheint als die Wiedergabe der für alle ordentlichen Kündigungen wichtigen Kündigungsfristen, die in drei kurzen Absätzen mit jeweils wenigen Zeilen problemlos in den Tariftext aufgenommen werden konnten. Aus der unterschiedlichen Technik, die die Tarifvertragsparteien insoweit angewandt haben, läßt sich deshalb nicht mit hinreichender Deutlichkeit ablesen, für § 8 Ziffer 2 hätten sie einen eigenen Normsetzungswillen gehabt.

b) Auch der jeweilige Klammerzusatz „entspricht § 55 AGB-DDR” setzt keine eigenständige Tarifnorm voraus. Der Hinweis, daß ein vorausgehender Tariftext dem Gesetz entspricht, belegt – wie das Landesarbeitsgericht zu Recht annimmt – eher, daß die Tarifvertragsparteien auf das Fehlen eines eigenen Normsetzungswillens hinweisen wollten, jedenfalls besagt das in dem Wort „entsprechen” enthaltene vergleichende Element nicht, der Text des Tarifvertrages habe über die inhaltliche Übereinstimmung hinausgehend wie das Gesetz Normqualität.

c) Die in § 8 Ziffer 2 IV MTV vorgesehene Anpassung des Tarifrechts im Fall einer Neuregelung der Kündigungsfristen im Tarifgebiet Bayern kann weiterhin erfolgen, läßt aber nicht auf einen Normsetzungswillen der Tarifvertragsparteien für die übernommenen gesetzlichen Kündigungsfristen schließen. § 55 AGB-DDR entsprach den für Bayern vereinbarten Kündigungsfristen ebensowenig wie § 622 Abs. 2 BGB n.F. Es mag das Motiv der Tarifvertragsparteien für die inhaltliche Übernahme von § 55 AGB-DDR gewesen sein, daß die relativ kurzen Fristen die für unvermeidbar gehaltenen Personalreduzierungen größeren Umfangs erleichterten. Diese Motivation hat aber im Tarifvertrag keinen hinreichend deutlichen Ausdruck gefunden. Ebensogut kann das Motiv gewesen sein, daß die Tarifvertragsparteien mit § 55 AGB-DDR, der nicht zwischen Arbeitern und Angestellten unterschied, eine verfassungskonforme gesetzliche Regelung vorfanden, die es ihnen ermöglichte, vorerst von einer eigenständigen Regelung abzusehen und die anstehende gesetzliche Neuregelung abzuwarten. Daß die Kündigungsfristen, wie sie im Tarifvertrag wiedergegeben werden, eine Änderung nur im Falle der Neuregelung der Kündigungsfristen in Bayern erfahren sollten, läßt sich § 8 Ziffer 2 Abs. 4 MTV und den im Zusammenhang stehenden Regelungen weder dem Wortlaut nach noch sonst entnehmen.

d) Gerade der Umstand, daß die Tarifvertragsparteien um die bevorstehende gesetzliche Neuregelung der Kündigungsfristen wußten, hätte eine Klarstellung im Tarifvertrag dahin erwarten lassen, die kurzen Fristen des AGB-DDR sollten auch nach dieser Neuregelung mit absehbar längeren Kündigungsfristen fortgelten, wenn dies denn der Wille der Tarifvertragsparteien gewesen wäre. Jedenfalls läßt sich, wie dargelegt, aus der bloßen Übernahme des damals geltenden Gesetzesrechts in den Tarifvertrag nicht schon auf einen solchen Willen der Tarifvertragsparteien schließen.

e) Schließlich belegt das Schreiben der IG Metall an ihre Mitglieder vom 3. November 1993 lediglich die damalige Rechtsauffassung dieser Tarifvertragspartei. Selbst wenn die Ansicht des Landesarbeitsgerichts zuträfe, nicht nur eine entsprechende praktische Tarifübung, sondern schon eine übereinstimmende Rechtsauffassung der Tarifvertragsparteien könne, wenn die vorrangig heranzuziehenden Auslegungskriterien zu keinem Ergebnis führten, zur Auslegung mitverwendet werden, käme jedenfalls vorliegend ein Rückgriff auf dieses „Hilfskriterium” nicht in Betracht. Die von der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ausgehende Auslegung führt nämlich – wie dargelegt – zu dem eindeutigen Ergebnis, daß § 8 Ziffer 2 MTV keine eigenständige Regelung enthält, weil darin die gesetzliche Regelung des § 55 AGB-DDR übernommen wird und ein entsprechender eigener Normsetzungswille der Tarifvertragsparteien im Tarifvertrag keinen hinreichend erkennbaren Ausdruck gefunden hat.

4. Ist somit davon auszugehen, daß die Bestimmungen über die Kündigungsfristen kein autonomes Tarifrecht darstellen, gilt bis zu einer eigenständigen Tarifregelung die jeweilige gesetzliche Regelung. Dazu gehört auch Art. 222 EGBGB. Die Übergangsbestimmung bzw. Übergangsbestimmungen dieser Art vom grundsätzlich auf die Tarifunterworfenen anzuwendenden Gesetzesrecht auszuklammern, hätte einer eigenständigen Tarifnorm bedurft, welche vorliegend gerade fehlt.

5. Das Arbeitsverhältnis hat nach all dem bis zum 31. Januar 1994 fortbestanden. Damit hat der Kläger auch Anspruch auf ein anteiliges 13. Monatseinkommen gemäß dem Tarifabkommen über die Absicherung eines Teiles eines 13. Monatseinkommens vom 7. März 1991 in Höhe von 40 % eines Monatsverdienstes; das sind unstreitig 1.152,– DM brutto.

 

Unterschriften

Etzel, Bröhl, Fischermeier, Rupprecht, Dr. Roeckl

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1089225

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