Entscheidungsstichwort (Thema)
Lohnfortzahlung. mittelbare Frauendiskriminierung
Normenkette
EWGVtr Art. 119, 177; GG Art. 3; LFZG § 1 Abs. 1 S. 1, Abs. 3 Nr. 2; ZPO §§ 291, 293
Verfahrensgang
LAG Düsseldorf (Urteil vom 24.09.1992; Aktenzeichen 13 Sa 655/92) |
ArbG Oberhausen (Urteil vom 12.03.1992; Aktenzeichen 1 Ca 372/92) |
Tenor
1. Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf vom 24. September 1992 – 13 Sa 655/92 – wird zurückgewiesen.
2. Die Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, ob der Klägerin ein Anspruch auf Lohnfortzahlung während einer Zeit der Arbeitsunfähigkeit zusteht. Die Klägerin ist bei der Beklagten seit dem 1.1. August 1991 als Innenreinigerin beschäftigt. Sie arbeitet arbeitstäglich zwei Stunden mit einem Stundenlohn von 10,41 DM netto. In der Zeit vom 19. Dezember bis 31. Dezember 1991 war die Klägerin arbeitsunfähig krank. In dieser Zeit hätte sie einen Verdienst in Höhe von 191,80 DM netto erzielt. Diesen Betrag verlangt sie unter Berufung auf § 1 Abs. 1 Satz 1 LFSG, Sie hat unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesarbeitsgerichts geltend gemacht, dieser Anspruch sei nicht durch § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG ausgeschlossen, da diese Bestimmung wegen Art. 119 EWG-Vertrag nicht anzuwenden sei.
Die Klägerin hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an sie 191,80 DM netto zuzüglich 4 % Zinsen seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Die Beklagte hat geltend gemacht, es bestehe kein sachlich einleuchtender Grund für die Gleichbehandlung von Arbeitnehmern gleich welchen Geschlechts, die mehr als zehn Stunden wöchentlich tätig seien und solchen Arbeitnehmern, die weniger als zehn Stunden in regelmäßiger wöchentlicher Arbeitszeit beschäftigt sind. Es sei auch zu bedenken, daß nach der einschlägigen Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs die Bundesrepublik darlegen könne, daß die gewählten Mittel ihrer Sozialpolitik dienten und eine sich mittelbar ergebende Ungleichbehandlung von Frauen gegenüber Männern deshalb gerechtfertigt sei. Es bestünden ferner grundsätzlich nachvollziehbare Gründe für eine unterschiedliche Behandlung hinsichtlich der Lohnfortzahlung nach der Zahl der Wochenstunden. Weiter hat die Beklagte geltend gemacht, § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG sei deshalb weiter anzuwenden, weil die Feststellung, ob mehr Frauen als Männer von dem Ausschluß der Lohnfortzahlung betroffen seien, jeweils auf eine bestimmte zeitliche Betrachtung abstelle, gesetzliche Regelungen aber auf Dauer angelegt seien. Schließlich seien die vom Europäischen Gerichtshof entwickelten Grundsätze nicht vollständig, weil nicht dargelegt sei, auf welcher Grundlage die mögliche mittelbare Diskriminierung zu prüfen sei, ob insoweit die Verhältnisse aller Mitgliedstaaten, eines EWG-Mitgliedstaats oder unter Umständen nur die Verhältnisse auf der Ebene einer Branche oder eines Betriebs maßgebend seien.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Die Berufung der Beklagten ist erfolglos geblieben. Mit der zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihren Antrag auf Klageabweisung weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet. Auf die von der Beklagten für die weitere Anwendung des § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG vorgebrachten Erwägungen ist der Senat bereits in seinen Entscheidungen vom 9. Oktober 1991 – 5 AZR 598/90 – und vom 26. Februar 1992 – 5 AZR 225/91 – eingegangen. Die Beklagte hat weitgehend nur Argumente wiederholt, mit denen der Senat sich anläßlich der vorgenannten Entscheidungen bereits auseinandergesetzt hatte. Deshalb kann auf die früher gegebene Begründung wie folgt zurückgegriffen werden, wobei im Abschnitt 4. die zusätzlichen Erwägungen der Beklagten beschieden werden. Im einzelnen gilt folgendes:
1. Eine Vorlage der hier zu entscheidenden Rechtsfrage an den Europäischen Gerichtshof ist nicht erforderlich. Allerdings haben gemäß Art. 177 Abs. 2 EWG-Vertrag die nicht letztinstanzlichen Gerichte der Mitgliedstaaten das Recht und gemäß Art. 177 Abs. 3 EWG-Vertrag die letztinstanzlichen Gerichte die Pflicht, den Europäischen Gerichtshof anzurufen, wenn eine entscheidungserhebliche Norm des Gemeinschaftsrechts auslegungsbedürftig ist. Eine Pflicht zur Vorlage entfällt aber dann, wenn die gleiche Rechtsfrage bereits Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof war (EuGH Urteil vom 6. Oktober 1982 – Rs 283/81 – AP Nr. 11 zu Art. 177 EWG-Vertrag; vgl. auch Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EWG-Vertrag, 1985, S. 104). Eine Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs hat unmittelbare Bindungswirkung zwar nur für das Ausgangsverfahren, in welchem sie durch Vorlagebeschluß des damit befaßten nationalen Gerichts ergangen ist. Wenn das erkennende Gericht bei seiner Entscheidung jedoch eine vom Europäischen Gerichtshof bereits geklärte Interpretation zugrunde legen will, ist dem Gebot der einheitlichen Anwendung von Gemeinschaftsrecht auch ohne erneute Vorlage Rechnung getragen (vgl. Grabitz, EWG-Vertrag, Stand Juni 1990, Art. 177 Rz 71). Die Entscheidung darüber, ob eine Vorschrift des Gemeinschaftsrechts auslegungsbedürftig ist, trifft allein das innerstaatliche Gericht. Dieses ist daher auch befugt, eine vom Europäischen Gerichtshof bereits entschiedene Rechtsfrage als geklärt und damit nicht mehr vorlagebedürftig anzusehen.
Die Frage der Vereinbarkeit des § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG mit Art. 119 Abs. 1 EWG-Vertrag war bereits Gegenstand einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs, so daß es einer erneuten Vorlage nicht mehr bedarf. Der Europäische Gerichtshof hat mit Urteil vom 13. Juli 1989 (– Rs 171/88 – EuGHE 1989, 2757 = AP Nr. 16 zu Art. 119 EWG-Vertrag) entschieden, Art. 119 EWG-Vertrag sei dahin auszulegen, daß er einer nationalen Regelung entgegensteht, die es den Arbeitgebern gestattet, von der Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle diejenigen Arbeitnehmer auszunehmen, deren regelmäßige Arbeitszeit wöchentlich zehn Stunden oder monatlich 45 Stunden nicht übersteigt, wenn diese Maßnahme wesentlich mehr Frauen als Männer trifft, es sei denn, der Mitgliedstaat legte dar, daß die betreffende Regelung durch objektive Faktoren, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben, gerechtfertigt sei.
2. Diese Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof ist der Entscheidung des Streitfalles zugrunde zu legen. Das führt zu folgenden Überlegungen:
a) Art. 119 Abs. 1 EWG-Vertrag verpflichtet die Mitgliedstaaten, den Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher Arbeit anzuwenden und zu gewährleisten. Dieser Grundsatz wird in der Richtlinie 75/117/EWG vom 10. Februar 1975 (Abl. EG Nr. L 45, 19) noch weiter konkretisiert. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs entfaltet dieser Grundsatz der Lohngleichheit unmittelbare Wirkung in den Mitgliedstaaten, wenn allein anhand der in der Vorschrift des Art. 119 Abs. 1 EWG-Vertrag verwendeten Merkmale „gleiche Arbeit” und „gleiches Entgelt” festgestellt werden kann, daß eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts vorliegt, ohne daß gemeinschaftliche oder nationale Maßnahmen zur Bestimmung dieser Kriterien erforderlich sind. Insoweit kann sich der betroffene Arbeitnehmer vor den nationalen Gerichten unmittelbar auf Art. 119 Abs. 1 EWG-Vertrag berufen (vgl. EuGHE 1976, 455 = NJW 1976, 2068; EuGHE 1980, 1275 = NJW 1980, 2014; EuGH Urteil vom 11. März 1981 – Rs 69/80 – NJW 1981, 2637; EuGH Urteil vom 31. März 1981 – Rs 96/80 – AP Nr. 2 zu Art. 119 EWG-Vertrag; vgl. auch BAG Urteil vom 14. Oktober 1986, BAGE 53, 161 = AP Nr. 11 zu Art. 119 EWG-Vertrag; BAGE 59, 306 = AP Nr. 24 zu § 23 a BAT; BAG Urteil vom 23. Januar 1990 – 3 AZR 58/88 – AP Nr. 7 zu § 1 BetrAVG Gleichberechtigung, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen; vgl. auch Dauses, a.a.O., S. 9; Schaub, NZA 1984, 73, 74).
b) Die Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle ist Entgelt im Sinne des Art. 119 Abs. 1 EWG-Vertrag. Unter Entgelt sind nach der Legaldefinition des Art. 119 EWG-Vertrag alle Vergütungen zu verstehen, die der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer aufgrund des Dienstverhältnisses unmittelbar oder mittelbar in bar oder in Sachleistungen zahlt. Der Europäische Gerichtshof hat deshalb im Urteil vom 13. Juli 1989 (– Rs 171/88 – AP Nr. 16 zu Art. 119 EWG-Vertrag) ausdrücklich den im Krankheitsfalle weiterzuzahlenden Lohn diesem Entgeltbegriff zugeordnet (zu 7 der Gründe).
c) Das Lohngleichheitsgebot des Art. 119 Abs. 1 EWG-Vertrag verbietet nicht nur solche Diskriminierungen, die sich unmittelbar aus der ausdrücklich nach dem Geschlecht differenzierenden jeweiligen Regelung ergeben. Das Diskriminierungsverbot erstreckt sich vielmehr auch auf solche Regelungen, die zwar geschlechtsneutral formuliert und deshalb auf Frauen und Männer gleichermaßen anzuwenden sind, tatsächlich jedoch aus Gründen, die auf dem Geschlecht oder der Geschlechtsrolle beruhen, wesentlich mehr Frauen als Männer nachteilig betreffen (vgl. EuGH Urteil vom 13. Mai 1986 – Rs 170/84 – AP Nr. 10 zu Art. 119 EWG-Vertrag; EuGH Urteil vom 31. März 1981 – Rs 96/80 – AP Nr. 2 zu Art. 119 EWG-Vertrag; BAG Urteil vom 14. Oktober 1986, BAGE 53, 161 = AP, a.a.O., mit zustimmender Anm. von Pfarr). Derartige mittelbare Diskriminierungen (vgl. allgemein zu diesem Begriff: Pfarr, NZA 1986, 585) werden ebenfalls von Art. 119 EWG-Vertrag verboten. Eine unterschiedliche Behandlung von Männern und Frauen bedeutet nur dann keine Verletzung des Art. 119 Abs. 1 EWG-Vertrag, wenn hierfür objektiv rechtfertigende Gründe bestehen, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben (EuGH Urteil vom 13. Mai 1986 – Rs 170/84 – AP Nr. 10 zu Art. 119 EWG-Vertrag).
3. Vorliegend ist der objektive Tatbestand einer mittelbaren Diskriminierung als erfüllt anzusehen.
Durch die gesetzliche Regelung des § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG wird die Gruppe der danach geringfügig beschäftigten Arbeiter von der Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle ausgeschlossen. Diese Vorschrift ist zwar geschlechtsneutral formuliert und deshalb unterschiedslos auf Männer und Frauen anzuwenden, in Wirklichkeit aber betrifft der Ausschluß von der Lohnfortzahlung wesentlich mehr Frauen als Männer.
Nach der – allgemein zugänglichen und daher gemäß § 291 ZPO verwertbaren – Eurostat-Erhebung 1987 (zitiert nach Wißmann, DB 1989, 1922) sind in der Bundesrepublik 89 % der gewerblichen Arbeitnehmer mit bis zu zehn Wochenstunden Frauen. In der Studie des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung, veröffentlicht im März 1989, heißt es, der Anteil der Frauen an der Gesamtzahl der sozialversicherungsfrei Beschäftigten betrage ca. 55 %, der Anteil der Männer ca. 45 % (vgl. S. II Nr. 6 des Forschungsberichtes Nr. 181). Allerdings kann die Anzahl der sozialversicherungsfrei Beschäftigten nicht mit der Zahl der geringfügig Beschäftigten im Sinne des § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG gleichgesetzt werden. Eine sozialversicherungsfreie Beschäftigung liegt nämlich bereits dann vor, wenn die Beschäftigung weniger als 15 Stunden in der Woche ausgeübt wird (vgl. § 8 Abs. 1 Nr. 1 SGB IV), während die Beschäftigungsgrenze im Sinne des § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG bei zehn Wochenstunden liegt. Die zitierten Werte des Forschungsberichtes beziehen sich erkennbar nur auf sozialversicherungsfreie Beschäftigungsverhältnisse. Im Hinblick auf die Zahl der Erwerbstätigen mit einer wöchentlichen Arbeitszeit unter zehn Stunden geht dagegen auch der Forschungsbericht des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung davon aus, daß es sich hierbei nahezu ausschließlich um Frauen handelt (vgl. S. 204, 205 des Forschungsberichtes).
Dieses Verhältnis ist außerdem aus weiteren statistischen Erkenntnisquellen zu entnehmen. Nach der – ebenfalls allgemein zugänglichen und daher gemäß § 291 ZPO verwertbaren – Mikrozensus-Erhebung von April 1988 waren von 193.000 mit bis zu neun Wochenstunden abhängig Beschäftigten 159.000, d.h. also 82,4 %, Frauen (Quelle: Hauptergebnisse der Arbeits- und Sozialstatistik 1989, S. 24). Nach dem Mikrozensus vom 21. bis zum 27. April 1986 kamen auf eine Gesamtzahl von 176.000 Beschäftigten 158.000, mithin 89,8 %, Frauen (Quelle: Hauptergebnisse der Arbeits- und Sozialstatistik 1988, S. 24). Dafür, daß insoweit zwischen der Geschlechterverteilung bei den Arbeitern und bei den in den statistischen Werten ebenfalls enthaltenen Angestellten und Beamten wesentliche Unterschiede bestehen, sind keine Anhaltspunkte ersichtlich. Es ist daher davon auszugehen, daß der Ausschluß geringfügig Beschäftigter von der Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle weitaus mehr Frauen als Männer betrifft.
Im vorliegenden Fall kommt es auf die Verhältnisse im Klagezeitraum 1991 an. Hierfür ist jedoch weder ersichtlich noch vorgetragen, daß der für die vorstehend genannten Jahre festzustellende Frauenanteil an der geringfügigen Beschäftigung sich in einem entscheidungserheblichen Umfang geändert hat.
4. a) Die Beklagte hat geltend gemacht, die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs setze sich nicht mit der Frage auseinander, für welchen Bereich die Feststellungen über die Beschäftigungsverhältnisse zu treffen seien. Auch diese Erwägung kann nicht zum Erfolg der Revision führen. Es geht um die Anwendung des für die Bundesrepublik Deutschland ohne die neuen Bundesländer geltenden Lohnfortzahlungsgesetzes. Daher ist auch ohne ausdrückliche Stellungnahme des Europäischen Gerichtshofs davon auszugehen, daß die Verhältnisse zu berücksichtigen sind, die in dem Geltungsbereich des Gesetzes bestehen.
b) Die Beklagte hat weiter geltend gemacht, an der weiteren Anwendung des § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG sei deshalb festzuhalten, weil die Verhältnisse, von denen die Nichtanwendung der Vorschrift abhänge, sich ändern könnten. Auch diese Überlegung gibt keinen Anlaß, von der bisherigen Rechtsprechung abzugehen. Die Geltung des § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG als solche wird nicht in Frage gestellt. Die Anwendung der Vorschrift ist jedoch nach dem vorrangigen Art. 119 EWG-Vertrag nicht zulässig, wenn dadurch eine mittelbare Diskriminierung von Frauen eintritt. Ob dies der Fall ist, richtet sich nach den tatsächlichen Umständen. Insofern ist – wie allgemein bei der Anwendung von Gesetzen – erforderlich zu prüfen, ob der Sachverhalt erfüllt ist, von dem die gesetzlich geregelte Folge abhängig ist.
5. Ist damit von einer mittelbaren Frauendiskriminierung durch § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG auszugehen, so läge nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 13. Juli 1989 (– Rs 171/88 – AP, a.a.O.) nur dann kein Verstoß gegen Art. 119 EWG-Vertrag vor, wenn der Mitgliedstaat darlegt, daß die betreffende Regelung durch objektive Faktoren, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben, gerechtfertigt ist.
An einer solchen Darlegung fehlt es.
a) Aus den Gesetzgebungsmaterialien zum Lohnfortzahlungsgesetz ergibt sich keine Begründung für die mit der Ausnahmevorschrift des § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG verfolgten Ziele des Gesetzgebers. Weder die entsprechenden Entwürfe der Fraktionen von SPD (BT-Drucks. V/3983) und CDU/CSU (BT-Drucks. V/3985) noch der anschließende Bericht des Ausschusses für Arbeit vom 4. Juni 1969 (BT-Drucks. V/4285) enthalten Begründungen für die gewählte Arbeitszeitgrenze. Sachliche Gründe, die die mit dem Ausschluß der Lohnfortzahlungspflicht geringfügig beschäftigter Arbeitnehmer verbundene mittelbare Diskriminierung rechtfertigen könnten, lassen sich hieraus nicht entnehmen.
b) Eine Rechtfertigung für den Ausschluß geringfügig beschäftigter Arbeiter von der Lohnfortzahlung läßt sich auch nicht damit begründen, daß dieser Arbeitnehmerkreis nicht in einem anderen Arbeitnehmern vergleichbaren Maße in den Betrieb eingegliedert und diesem verbunden sei und ihm gegenüber daher die zur Lohnfortzahlung erforderliche Fürsorgepflicht des Arbeitgebers fehle (vgl. Stellungnahme der Bundesregierung vom 9. Januar 1989 in dem Verfahren vor dem EuGH – Rs 171/88 – EuGHE 1989, 2743, 2747). Beide Arbeitnehmergruppen unterscheiden sich lediglich durch den Umfang ihrer Arbeitszeit. Im übrigen unterliegen die geringfügig beschäftigten Arbeitnehmer in gleicher Weise dem Direktionsrecht des Arbeitgebers und bedürfen ebenso dessen Fürsorge. Eine Abhängigkeit der Fürsorgepflicht vom Umfang der Arbeitszeit besteht nicht. So hat auch der Europäische Gerichtshof Erwägungen in dieser Richtung nicht gelten lassen und ausgeführt, hieraus ließen sich keine objektiven Kriterien entnehmen, die außerhalb einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts lägen (Urteil vom 13. Juli 1989 – Rs 171/88 – AP, a.a.O. zu 14 der Gründe). Der Bundesregierung ist die Auffassung des Europäischen Gerichtshofs bekannt. Sie hat sich dazu nicht mehr geäußert. Es bedurfte daher seitens des Senats auch nicht der Einholung einer Stellungnahme durch die Bundesregierung, wobei dahinstehen kann, in welcher verfahrensrechtlichen Form dies überhaupt möglich sein könnte.
c) Der Ausschluß geringfügig beschäftigter Frauen von der Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle ist weiter nicht mit einer geringeren Schutzbedürftigkeit dieser Gruppe zu rechtfertigen. Wenn auch das Einkommen des geringfügig Beschäftigten oftmals nur einen Zusatzverdienst darstellt und für sich genommen die Existenz einer Familie nicht allein sichern kann, so besteht dennoch ein Bedürfnis für eine Absicherung im Krankheitsfalle. Die gegenteilige Argumentation verkennt die tatsächlichen Gegebenheiten des Arbeitsmarktes. Vielen Arbeitnehmern bleibt als einzige Möglichkeit der Erwerbstätigkeit nur ein Teilzeitarbeitsverhältnis. Solche Arbeitnehmer sind auf diese Art der Beschäftigung zur Sicherung ihrer Existenz angewiesen und deshalb in gleicher Weise schutzbedürftig wie Vollzeitbeschäftigte. Aber auch bei geringfügig beschäftigten Arbeitnehmern, die anderweitig finanziell abgesichert sind – z.B. durch das Einkommen des Ehepartners oder den Bezug einer Rente –, kann nicht von einer geringeren Schutzbedürftigkeit ausgegangen werden. Allerdings wird in diesen Fällen die mit der geringfügigen Beschäftigung erzielte Vergütung im Regelfall nur einen Zusatzverdienst darstellen. Dennoch ist dieser Zusatzerwerb häufig für das Auskommen der Familie notwendig oder gar unverzichtbar.
Im übrigen ist darauf hinzuweisen, daß die Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle nicht vom Grad der Schutzbedürftigkeit des jeweiligen Arbeitnehmers abhängig ist. Das Lohnfortzahlungsgesetz stellt nicht auf die soziale Lage des Arbeitnehmers ab, vielmehr will es dem Arbeitnehmer im Krankheitsfalle für die ersten sechs Wochen der Arbeitsunfähigkeit dessen bisheriges Einkommen sichern und den Eintritt wirtschaftlicher Nachteile durch die Krankheit verhindern (BAGE 23, 444, 447 = AP Nr. 6 zu § 1 LohnFG).
d) Auch aus der besonderen sozialversicherungsrechtlichen Lage der geringfügig beschäftigten Frauen ergibt sich keine objektive Rechtfertigung ihres Ausschlusses von der Lohnfortzahlung.
Geringfügig Beschäftigte sind gemäß § 7 SGB V nicht krankenversicherungspflichtig. Eine geringfügige Beschäftigung liegt gemäß § 8 Abs. 1 Nr. 1 SGB IV dann vor, wenn sie regelmäßig weniger als 15 Stunden in der Woche ausgeübt wird und das Arbeitsentgelt regelmäßig im Monat 1/7 der monatlichen Bezugsgröße im Sinne des § 18 SGB IV (1991: 480,– DM) nicht übersteigt. Darüber hinaus sind geringfügig Beschäftigte auch von der Rentenversicherungspflicht befreit (§ 1228 RVO) und zahlen keine Beiträge zur Arbeitslosenversicherung (§ 169 a Abs. 2 AFG). Sie unterliegen schließlich in steuerrechtlicher Hinsicht der Sonderregelung des § 40 a EStG, wonach der Arbeitgeber eine Pauschallohnsteuer in Höhe von 15 % des Arbeitslohns abführen kann.
Angesichts dieser besonderen Umstände darf aber nicht außer acht gelassen werden, daß dem Vorteil der Sozialversicherungsfreiheit auch ganz erhebliche sozialversicherungsrechtliche Nachteile gegenüberstehen. Der geringfügig beschäftigte Arbeitnehmer, der keine Sozialversicherungsbeiträge zahlen muß, trägt auf der anderen Seite den Nachteil, daß er die entsprechenden Versicherungsleistungen nicht in Anspruch nehmen kann und demzufolge im Krankheitsfalle keine Leistungen von der Krankenkasse erhält, ganz abgesehen davon, daß er auch keinen Rentenanspruch erwirbt. In Wirklichkeit erweist sich der Ausschluß von der Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle daher als eine weitere, zusätzliche Benachteiligung geringfügig beschäftigter Arbeitnehmer.
e) Auch unter Berücksichtigung der historischen Entwicklung des Lohnfortzahlungsrechts läßt sich der Ausschluß geringfügig beschäftigter Arbeitnehmer von der Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle nicht rechtfertigen.
Die Gehaltsfortzahlungspflicht des Arbeitgebers im Krankheitsfalle besteht für die Angestellten seit den Notverordnungen des Reichspräsidenten vom 1. Dezember 1930 (RGBl I S. 517, 521) und vom 5. Juni 1931 (RGBl I S. 279, 281). Diese Regelung sollte die damals notleidenden Krankenkassen während der ersten sechs Wochen einer Krankheit von der Zahlung des Krankengeldes befreien und verlagerte deshalb die Last der Gehaltsfortzahlung auf den Arbeitgeber. Für die Arbeiter wurde die nachhaltige Entlastung der Krankenkassen in den ersten sechs Krankheitswochen erst später – zuletzt durch das Lohnfortzahlungsgesetz vom 27. Juli 1969 – eingeführt. Die Überbürdung der Lohnfortzahlung auf die Arbeitgeber stellte daher ein Mittel der Sozialpolitik dar, das der Gesetzgeber zur Entlastung der Krankenkassen ergriffen hat. Hieraus läßt sich indessen nicht der Schluß ziehen, wenn die Krankenversicherung nicht zur Leistung verpflichtet sei, müsse auch eine Befreiung des Arbeitgebers von der Lohnfortzahlung eingreifen, so daß § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG diesem inneren Zusammenhang beider Regelungsbereiche Rechnung trage. Für die Annahme, § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG regele bei geringfügiger Beschäftigung den Ausschluß der Lohnfortzahlungspflicht des Arbeitgebers korrespondierend zur Leistungsfreiheit der Sozialversicherungsträger, ergeben sich weder aus dem Wortlaut noch aus der Entstehungsgeschichte der Vorschrift Anhaltspunkte. Vielmehr spricht sogar gegen einen derartigen Zusammenhang, daß die jeweiligen Regelungen unterschiedliche Bemessungsgrößen voraussetzen. Während in § 8 SGB IV für die Sozialversicherungsfreiheit an eine Arbeitszeitgrenze von 15 Wochenstunden angeknüpft wird, greift der Ausschluß von der Lohnfortzahlung gemäß § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG bei einer Grenze von zehn Wochenstunden ein. Eine Abhängigkeit der Lohnfortzahlungsvorschriften von der versicherungsrechtlichen Ausgestaltung geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse kann deshalb nicht angenommen werden. Beide Regelungsbereiche sind vielmehr voneinander getrennt.
f) Die fehlende Eignung und Erforderlichkeit der Regelung des § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG zur Erreichung eines notwendigen sozialpolitischen Ziels wird deutlich, wenn man einen Vergleich anstellt mit den entsprechenden Regelungen für geringfügig beschäftigte Angestellte. Die für Angestellte geltenden Vorschriften der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalle (§ 616 BGB, § 63 HGB und § 133 c GewO) enthalten keine dem § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG vergleichbare Einschränkung. Geringfügig beschäftigte Angestellte erhalten in vollem Umfang Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalle. Demgegenüber heben die dargestellten sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften nicht auf eine Unterscheidung zwischen Arbeitern und Angestellten ab, sondern lediglich auf den Tatbestand der geringfügigen Beschäftigung. Sie sind deshalb für geringfügig beschäftigte Angestellte in gleichem Maße anwendbar wie für geringfügig beschäftigte Arbeiter. Obwohl also weder im Hinblick auf die soziale Schutzbedürftigkeit noch wegen der sozialversicherungsrechtlichen Behandlung oder des Umfangs von Betriebsbindung und Fürsorgepflicht eine Differenzierung zwischen Angestellten und Arbeitern getroffen werden kann, hat der Gesetzgeber hinsichtlich der Entgeltfortzahlung bei Angestellten eine dem § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG entsprechende Regelung nicht eingeführt. Auch aus diesem Grund kann der Ausschluß der Lohnfortzahlung für geringfügig beschäftigte Frauen gemäß § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG keine zur Erreichung eines sozialpolitischen Ziels erforderliche Regelung sein (vgl. Wißmann, DB 1989, 1922; Plagemann, EWiR 1990, 181, 182).
g) Auch aus dem Gesichtspunkt der Erstattung von Lohnfortzahlungskosten durch die Krankenkassen gemäß §§ 10 ff. LFZG kann sich keine objektive Rechtfertigung der Regelung des § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG ergeben. Denn der Ausgleich der Arbeitgeberaufwendungen gemäß § 10 LFZG knüpft an die Fortzahlung des Arbeitsentgelts im Krankheitsfalle an und stellt damit nur eine Rechtsfolge der Lohnfortzahlung dar. Sie kann aus diesem Grunde nicht zur Rechtfertigung einer die Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle gerade ausschließenden Regelung herangezogen werden.
6. Der Verstoß des § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG gegen Art. 119 EWG-Vertrag hat zur Folge, daß diese Vorschrift im Streitfall nicht angewandt werden darf. Aufgrund der unmittelbaren Geltung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten führt der Vorrang des Gemeinschaftsrechts dazu, daß die nationalen Gerichte im Rahmen der bei ihnen anhängigen Verfahren entgegenstehendes innerstaatliches Recht aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet zu lassen haben, ohne daß sie dessen Aufhebung durch den Gesetzgeber oder durch ein Verfassungsgericht abwarten müssen (vgl. EuGHE 1978, 629, 630; EuGH Urteil vom 7. Februar 1991 – Rs C 184/89 – NJW 1991, 2207 = NVwZ 1991, 461; vgl. auch Arbeitsgericht Oldenburg. Vorlagebeschluß vom 5. Mai 1988 – 3 Ca 50/88 – NZA 1988, 697, 698; Wißmann, DB 1989, 1922, 1924).
Dem steht nicht entgegen, daß nach Art. 100 GG die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes nur vom Bundesverfassungsgericht festgestellt werden kann. Vorliegend geht es um die Frage der Vereinbarkeit einer nationalen Bestimmung mit unmittelbar anzuwendendem europäischen Gemeinschaftsrecht. In derartigen Fällen können die Gerichte über die Vereinbarkeit nationalen Rechts mit Art. 119 EWG-Vertrag gemäß der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs selbst entscheiden.
Unterschriften
Dr. Thomas, Dr. Gehring, Dr. Rost, Kreienbaum, Heel
Fundstellen