Leitsatz (amtlich)
1. Die Wegezeit des Arbeitnehmers von der Wohnung zur Betriebsstätte ist in der Regel nicht als Arbeitszeit zu vergüten.
2. Die Wegezeit des Arbeitnehmers von der Betriebsstätte zu einem außerhalb der Betriebsstätte gelegenen Arbeitsplatz ist in der Regel als Arbeitszeit zu vergüten.
3. Bei einer unmittelbaren Anreise des Arbeitnehmers von seiner Wohnung zu einem außerhalb der Betriebsstätte gelegenen Arbeitsplatz ist regelmäßig die Zeit nicht zu vergüten, die der Arbeitnehmer dabei dadurch erspart, daß er sich nicht von seiner Wohnung zum Betrieb zu begeben braucht.
Normenkette
AZO § 2 Abs. 3 S. 1; Vorl. LAO § 4; BGB § 611
Verfahrensgang
LAG Düsseldorf (Urteil vom 09.06.1959; Aktenzeichen 6 Sa 753/57) |
Tenor
1. Auf die Revision der Beklagten wird unter deren Zurückweisung im übrigen das Urteil des Landesarbeitsgerichts in Düsseldorf – 6. Kammer – vom 9. Juni 1959 – 6 Sa 753/57 – insoweit aufgehoben, als darin die Beklagte zur Zahlung von 1.071,– DM brutto verurteilt und über die Kosten entschieden worden ist.
2. Diese Klageforderung ist dem Grunde nach gerechtfertigt.
3. Zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung über den Betrag der Forderung und über die Kosten der Revision wird der Rechtsstreit an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
1. Der im Jahre 1953 aus der sowjetischen Besatzungszone in die Bundesrepublik gekommene in D.-H. wohnhafte und nicht tarifgebundene Kläger war in der Zeit vom 10. Februar 1954 bis zum 3. Juni 1956 aushilfsweise, danach bis zum 30. September 1957 ständig für die Zweigstelle der beklagten C.-Co.m.b.H. in D. als Warenkontrolleur tätig. Seine Aufgabe bestand darin, an den verschiedensten Lade- und Löschstellen die Beladung und das Löschen von Schiffen, Waggons und Fuhren hinsichtlich der Menge oder Beschaffenheit der geladenen Güter zu kontrollieren. Die betreffenden Stellen, an denen dies zu geschehen hatte, lagen zum größten Teil außerhalb D. und erstreckten sich teilweise im Süden von D. bis nach D. und N., im Morden von D. bis nach E. und K., im Nordosten von D. bis nach M.. Während seiner Aushilfstätigkeit in der Zeit vom 10. Februar 1954 bis zum 3. Juni 1956 erhielt der Kläger einen Stundensatz von 1,50 DM, und zwar bei Reisen nach auswärts gerechnet für die gesamte Zeit von der Abfahrt aus D. bis zur Heimkehr nach D. Soweit dabei eine tägliche Arbeitszeit von 8 Stunden überschritten wurde, erhielt er einen Mehrarbeitszuschlag von 25 %. Nach seiner ab 3. Juni 1956 erfolgten Übernahme in ein ständiges Angestelltenverhältnis bestätigte die Beklagte dem Kläger über seine Vergütung schriftlich folgende Vereinbarung:
„Ab 4. Juni 1956 stehen Sie uns als Kontrolleur ausschließlich zur Verfügung. Wir garantieren Ihnen monatlich 208 Stunden. Ihr Entgelt hierfür beträgt monatlich DM 450,– brutto.
Überstunden werden auf Basis dieser Bezüge mit 1/200 vergütet. Wir haben das Recht, bis zu 14 Tagen nach Ableistung einer Überstunde die Stunde selbst durch Sie abfeiern zu lassen. Die Mehrarbeitszuschläge erhalten Sie in jedem Fall vergütet. …”
Ab dem 1. Mai 1957 erhielt der Kläger 475,– DM brutto monatlich. Außerdem erhielt er 2,50 DM netto täglich, für die auf den Formblättern, die die Beklagte für die Tagesberichte und Kostenberechnungen ihrer Kontrolleure eingeführt hat, das Wort „Tagesspesen” benutzt wird. In den ersten Monaten nach seiner Übernahme in ein ständiges Anstellungsverhältnis berechnete der Kläger seine Arbeitszeit dergestalt, daß er auch seine Anfahrszeiten ab D. zum Kontrollort und seine Rückfahrzeiten vom Kontrollort nach D. als Arbeitszeit angab und sich diese Zeiten, gegebenenfalls auch als Mehrarbeitszeiten entsprechend den dafür vorgesehenen Sätzen, vergüten ließ. Im November 1956 beanstandete die Beklagte jedoch diese Arbeitszeitberechnung des Klägers; sie bewertete als Arbeitszeit nur noch die Zeit zwischen dem Beginn der Kontrolle am ersten Kontrollort bis zum Schluß der Kontrolle an dem gegebenenfalls letzten Kontrollort einschließlich der zwischen den einzelnen Kontrollorten liegenden Reisezeiten, nicht jedoch mehr die Zeiten der Anfahrt ab D. zu dem ersten Kontrollort und der Rückreise ab dem – gegebenenfalls letzten-Kontrollort nach D.. Der Kläger wurde damals von dem bei der Beklagten tätigen Disponenten B. aufgefordert, seine Abrechnung für November 1956, die der Kläger noch nach dem bisherigen für ihn günstigeren Schema aufgemacht hatte, entsprechend abzuändern. Dem entsprach der Kläger und zwar auch für die Folgezeit.
2. In seiner am 17. September 1957 eingereichten Klage hat der Kläger für die Zeit vom 1. November 1956 bis zum 12. September 1957 Vergütung der An- und Rückfahrzeiten zwischen D. und den ersten bzw. letzten jeweiligen Kontrollorten verlangt. Er hat behauptet, insgesamt seien ihm in dieser Zeit insgesamt 372 Fahrstunden nicht vergütet worden. Neben einem in den Vorinstanzen abgewiesenen und nicht in die Revisionsinstanz gelangten weiteren Vergütungsanspruch in Höhe von rund 1.600,– DM aus der Zeit seiner Aushilfstätigkeit bei der Beklagten hat daher der Kläger als Mehrarbeitsvergütung für diese von ihm behaupteten Fahrzeiten unter Einbeziehung von im einzelnen von ihm berechneten Mehrarbeitszuschlägen den Gesamtbetrag von 1.071,60 DM verlangt.
Zu ihrem Klageabweisungsantrag hat die Beklagte folgendes geltend gemacht:
Sie hat behauptet, es sei dem Kläger trotz fehlender ausdrücklicher Absprache bekannt gewesen, daß der Rahmentarifvertrag (RTV) für die kaufmännischen und technischen Angestellten im privaten Verkehrsgewerbe Nordrhein-Westfalen vom 5. März 1952 bzw. der diesen ablösende spätere entsprechende RTV vom 22. Mai 1957 betriebsüblicherweise Inhalt aller Arbeitsverhältnisse der Beklagten mit ihren Angestellten sei. Hiervon ausgehend hat die Beklagte geltend gemacht, diese Tarifwerke sähen vor, daß die vom Kläger verfolgten Reisezeiten nicht zu vergüten seien; jedenfalls seien die vom Kläger geltend gemachten Ansprüche nach näherer Maßgabe der in diesen Tarifwerken enthaltenen Ausschlußfristen verfallen. Hierzu hat der Kläger behauptet, weder ihm noch einem anderen Kontrolleur der Beklagten sei eine betriebsübliche Anwendung der genannten Tarifwerke bekannt gewesen. Außerdem sei ihm als ehemaligen Angehörigen der SBZ die Bedeutung von Tarifverträgen völlig unbekannt gewesen.
Die Beklagte hat weiterhin behauptet, der Kläger habe gewußt, daß bei allen ihren Kontrolleuren mit der täglichen Zahlung von 2,50 DM etwaige Härten beim Auftreten längerer An- und Abfahrzeiten ausgeglichen sein sollten. Darauf sei es zurückzuführen, daß sich der Kläger ab November 1956 der dann von der Beklagten gehandhabten Berechnungsmethode nicht widersetzt habe. Demgegenüber hat der Kläger behauptet, bei keiner anderen Kontrollfirma sei es üblich, die An- und Abreisezeiten der Kontrolleure zu den Kontrollorten unberücksichtigt zu lassen. Der ihm täglich gewährte Betrag von 2,50 DM sei nicht zur Abgeltung der An- und Abreisezeiten bestimmt gewesen. Er hat weiter behauptet, er habe ab November 1956 gegenüber dem Disponenten der Beklagten, B., die Nichtberücksichtigung seiner An- und Abreisezeiten ausdrücklich beanstandet.
Schließlich hat die Beklagte noch geltend gemacht, die vom Kläger verfolgten Ansprüche seien verwirkt.
3. Die erste Instanz hat die gesamte Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat dem Kläger den hier interessierenden Betrag von 1.071,– DM brutto unter Zurückweisung seiner Berufung im übrigen zuerkannt. Hiergegen richtet sich die vom Landesarbeitsgericht zugelassene Revision der Beklagten mit dem Ziel der völligen Klageabweisung durch Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.
Entscheidungsgründe
1. Für die Berechtigung des vom Kläger verfolgten Zahlungsbegehrens ist das Landesarbeitsgericht zutreffend davon ausgegangen, daß der Anstellungsvertrag vom 3. Juni 1956 die Beklagte verpflichtete, über das Monatspensum von 208 Stunden hinausgehende Arbeitsleistungen des Klägers als Überstunden mit 1/200 des Monatsgehalts nebst Mehrarbeitszuschlägen zu vergüten. Wenn sich damit die für den Rechtsstreit entscheidende Frage ergibt, ob auch die vom Kläger in Ansatz gebrachten An- und Abfahrzeiten zu und von den einzelnen Kontrollorten nach Maßgabe dieses Anstellungsvertrages vergütungspflichtige Arbeitsleistungen des Klägers sind, so ist vorweg klarzustellen, daß es dabei nicht darauf ankommt, ob über das Monatspensum von 208 Stunden gegebenenfalls hinaus geleistete Mehrarbeit des Klägers nach den Vorschriften der AZO zulässig war oder nicht. Es entspricht einer ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, die auch in der Literatur fast einhellig gebilligt wird, daß auch nach der AZO an sich verbotene Mehrarbeit dann absprachegemäß zu vergüten ist, wenn sie tatsächlich geleistet worden ist; denn es geht nicht an, einen Verstoß gegen das zugunsten des Arbeitnehmers gedachte Schutzgesetz der AZO mit rückwirkender Nichtigkeit zu ahnden und damit die zugunsten des Arbeitnehmers bestimmten Schutzvorschriften der AZO sich zu seinem Nachteil auswirken zu lassen (vgl. Urteil des Ersten Senats des Bundesarbeitsgerichts vom 15. März 1960 – 1 AZR 464/57 – AP Nr. 9 zu § 15 AZO; Urteil des Vierten Senats des Bundesarbeitsgerichts vom 2. Dezember 1959 – 4 AZR 400/58 – BAG 8, 245 [251] = AP Nr. 2 zu § 2 TO.A; Urteile des Fünften Senats des Bundesarbeitsgerichts vom 31. März 1960 – 5 AZR 443/57 – und vom 21. Juli 1960 – 5 AZR 510/58 – AP Nr. 17 und Nr. 18 zu § 611 BGB Ärzte, Gehaltsansprüche, jeweils mit umfangreichen weiteren Nachweisen). Weiter ist vorweg klarzustellen, daß für die Revisionsinstanz – entgegen der Annahme der Revision – nicht davon ausgegangen werden kann, jedenfalls seien, sich die Parteien ab November 1956 – als die Beklagte die bis dahin geschehene Einbeziehung der An- und Abfandzeiten in die Abrechnungen des Klägers beanstandete – im Wege der Vertragsänderung im Sinne des § 305 BGB darüber einig geworden, daß dafür der Kläger nichts zu beanspruchen habe. Denn der Kläger hat behauptet, er habe gegen die Nichtberücksichtigung dieser Zeiten gegenüber dem Disponenten der Beklagten namens B. ausdrücklich Widerspruch erhoben. Deshalb ist das Landesarbeitsgericht zutreffend davon ausgegangen, daß im November 1956 eine einverständliche Vertragsänderung nicht vorgenommen worden ist. Daß es in dieser Beziehung an gegenteiligen tatsächlichen Feststellungen im Sinne der Annahme der Beklagten habe fehlen lassen, hat die Beklagte nicht in der nach § 554 Abs. 3 Ziffer 2 b ZPO zu fordernden Weise gerügt.
2. Für die somit sich ergebende Frage, ob die hier in Rede stehenden An- und Abfahrzeiten des Klägers zu den einzelnen Kontrollorten als Arbeitsleistungen des Klägers anzusehen sind, ist zunächst von allgemeinen arbeitsrechtlichen Begriffen auszugehen. Denn wenn die Parteien nichts Besonderes vereinbart haben, muß nach den Auslegungsregeln der §§ 133, 157 BGB angenommen werden, daß sie mit den in dem Vertrag vom 3. Juni 1956 genannten vergütungspflichtigen Arbeitsleistungen das gemeint haben, was allgemein darunter zu verstehen ist.
Die ganz herrschende Auffassung in Rechtsprechung und Rechtslehre geht dahin, daß die Zeit für die An- und Abfahrt des Arbeitnehmers zum Betrieb des Arbeitgebers in der Regel keine Arbeitsleistung des Arbeitnehmers ist (vgl. RAG ARS 44, 225 [237] mit Anm. von Mansfeld [239, 240]; das zur Veröffentlichung vorgesehene Urteil des Ersten Senats des Bundesarbeitsgerichts vom 26. August 1960 – 1 AZR 421/58 –; Hueck-Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, Bd. I, 6. Aufl., 1959, § 33 VI 5 S. 191 zu Fußnote 55; Nikisch, ArbR, 2. Aufl., Bd. 1, 1955, § 27 III 2 S. 258; Staudinger-Nipperdey, Der Dienstvertrag, 1958, § 611 BGB Bem. 124).
Anders verhält es sich jedoch, sofern keine gegenteilige tarif- oder einzelvertragliche Regelung getroffen ist, mit An- und Abfahrten, die ein Arbeitnehmer darauf verwendet, um an einen außerhalb des Betriebes seines Arbeitgebers liegenden Arbeitsplatz zu gelangen. Das sprechen § 2 Abs. 3 Satz 1 AZO für einen „im übrigen im Betrieb Beschäftigten” und § 4 Vorl. Landarbeitsordnung (LAO) für die Hin- und Rückwege zwischen Hof und Arbeitsplatz aus. Der innere Grund dieser gesetzlichen Regelung ist der, daß ein Arbeitnehmer nicht schlechthin Aufwendung von Arbeitskraft schuldet, sondern seine Arbeitskraft auch nur in einem bestimmten zeitlichen Rahmen für den Arbeitgeber einzusetzen braucht. Verbraucht er diesen zeitlichen Rahmen durch die Faktoren Weg und Zeit und damit dadurch, daß der Arbeitgeber die Arbeitsstätte des Arbeitnehmers an einen Ort außerhalb des Betriebes legt, so wertet wirtschaftliches Denken die im Interesse des Arbeitgebers durch den Arbeitnehmer geschehende Überwindung zwischen Betrieb und Arbeitsplatz als Arbeitsleistung des Arbeitnehmers deshalb, weil der Arbeitnehmer damit weisungsgebunden die Arbeitsbedürfnisse befriedigt, die aus unternehmerischen Anlässen an einem außerhalb des Betriebes belegenen Ort auftauchen (vgl. BAG 5, 86 [90] = AP Nr. 1 zu § 2 TO.A; vgl. auch Staudinger-Nipperdey, aaO, § 611 BGB Bem. 124; Hueck-Nipperdey, aaO, § 33 VI 5 S. 191 zu Fußnote 56; Nikisch, aaO, § 27 III 2 S. 258).
Für die hier in Rede stehenden An- und Abfahrten des Klägers zu den einzelnen Kontrollpunkten führt diese Betrachtung zu der Annahme, daß sie nach allgemeinen das Arbeitsleben beherrschenden Vorstellungen als Arbeitsleistungen des Klägers zu gelten haben. Dabei ist es unerheblich, daß § 2 Abs. 3 Satz 1 AZO von „einem im übrigen im Betrieb Beschäftigten” spricht, der außerhalb des Betriebes tätig wird. Damit ist vom Gesetz nicht darauf abgestellt, in welchem zeitlichen Umfang der betreffende Arbeitnehmer „im übrigen im Betrieb beschäftigt” ist. Daß der Kläger aber „im Betrieb” der Beklagten beschäftigt war, kann nicht zweifelhaft sein. Dort hat er seine Kontrollaufträge in Empfang genommen und seine Kontrollergebnisse abgeliefert. Schon damit ist er „im übrigen im Betrieb” der Beklagten „beschäftigt” gewesen. Denn „im Betrieb beschäftigt” ist nicht nur derjenige, der auf dem „Büro” oder im „Hause” der Betriebsstätte selbst tätig wird, sondern auch derjenige, der sich von dort aus im Zuge der betrieblich verfolgten Zwecke an den verschiedensten auswärtigen Arbeitsstätten einsetzen läßt. Die Richtigkeit dieser Annahme ergibt auch die Überlegung, daß es jedes vernünftigen Grundes entbehren würde, für denjenigen Arbeitnehmer, der in erheblichem Umfang sowohl im Büro oder in der Werkstätte innerhalb eines Betriebes wie auch außerhalb der Betriebsstätte arbeitet, die An- und Abfahrten zum außerhalb der Betriebsstätte belegenen Arbeitsplatz als Arbeitszeit zu bewerten, davon aber bei einem Arbeitnehmer, der nur geringen betriebsinternen Dienst leistet und – wie der Kläger – in ganz überwiegendem Maße auf auswärtigen Arbeitsplätzen tätig wird, abzusehen. In beiden Fällen bleibt der Grundsachverhalt derselbe, das ein Arbeitnehmer sein Arbeitszeitvolumen, das er seinem Arbeitgeber schuldet, in dessen Interesse verbraucht und damit aus unternehmerischen Gründen aufgetauchte Arbeitsbedürfnisse des Arbeitgebers erfüllt, die als entgeltwerte Arbeitsleistungen anzusehen sind.
3. Alles, was die Beklagte dahingehend vorbringt, daß der Kläger für die hier streitigen Reisen kein Entgelt fordern könne, kann nach dem vom Landesarbeitsgericht festgestellten Sachverhalt nicht in Betracht kommen.
a) Gegenüber der Annahme, daß derartige An- und Abreisen als Arbeitsleistungen des Klägers gelten, hat die Revision geltend gemacht, für die Vertragsbeziehungen der Parteien hätten „kraft betrieblicher Übung” die – nicht für allgemein verbindlich erklärten – Regelungen des RTV für die kaufmännischen und technischen Angestellten im Verkehrsgewerbe des Landes Nordrhein-Westfalen vom 5. März 1952 bzw. vom 22. Mai 1957 gegolten; aus deren § 3 Ziffer 7 (RTV 1952) bzw. § 5 Ziffer 7 (RTV 1957) folge aber, daß derartige Reisen nicht abzugelten seien.
Hierzu hat das Landesarbeitsgericht ausgeführt, es sei nicht festzustellen, daß die Geltung der genannten Tarifwerke zwischen dem – unstreitig nicht tarifgebundenen – Kläger und der Beklagten bei Begründung des Arbeitsverhältnisses vereinbart worden sei oder daß der Kläger nachträglich mit der Geltung der Tarifwerke für sein Arbeitsverhältnis einverstanden gewesen sei.
Soweit demgegenüber die Revision rügt, das Landesarbeitsgericht habe die von ihr erbotenen Beweise durch Vernehmung der Zeugen B. und B. darüber nicht erhoben, daß die Geltung der Tarifwerke für alle Arbeitsverhältnisse ihrer Arbeitnehmer „betriebsüblich” sei, sind diese Beweisantritte der Beklagten vom Landesarbeitsgericht mit Recht als unerheblich außer Betracht gelassen und nicht erhoben worden. Denn wenn, wie das Landesarbeitsgericht ausgeführt hat, nicht festzustellen ist, daß der Kläger bei Vertragsbeginn mit der Geltung der Tarifwerke für sein Arbeitsverhältnis einverstanden war, konnte eine „Betriebsüblichkeit” der Anwendung der genannten Tarifwerke auf die Arbeitsverhältnisse anderer Arbeitnehmer der Beklagten auf das Arbeitsverhältnis des Klägers nur dann Wirkungen äußern, wenn sich der Kläger dieser „Betriebsüblichkeit” beugte und damit zu erkennen gab, daß auch er mit der Anwendung der Tarifwerke auf sein Arbeitsverhältnis einverstanden war. Eine zwingende Wirkung, die dieses Einverständnis des Klägers überflüssig machte, entfaltet eine betriebliche Übung dagegen nicht (vgl. das zur Veröffentlichung bestimmte Urteil des Fünften Senats des Bundesarbeitsgerichts vom 13. Oktober 1960 – 5 AZR 284/59 – mit weiteren Nachweisen). Daß aber der Kläger in der Zeit nach Vertragsabschluß ein Verhalten an den Tag gelegt habe, aus dem zu entnehmen sei, daß er mit der Geltung der Tarifwerke für sein Arbeitsverhältnis einverstanden sei, hat das Landesarbeitsgericht gerade verneint.
Soweit die Revision in dieser Beziehung weiter rügt, das Landesarbeitsgericht habe bei seiner Annahme, der Kläger sei mit der Geltung der Tarifwerke für sein Arbeitsverhältnis nicht einverstanden gewesen, die Behauptung der Beklagten in ihrem Schriftsatz vom 18. März 1958 S. 2 nicht berücksichtigt, ist diese Rüge abwegig. In jenem Schriftsatz hatte die Beklagte eine Darstellung darüber gegeben, wie sich der Kammervorsitzende der ersten Instanz gegenüber dem Kläger in einer Aufklärung über die Bedeutung von Tarifverträgen verhalten haben soll. Daraus kann nichts Brauchbares für die Frage geschlossen werden, ob der Kläger bei Beginnt oder im Laufe seines Arbeitsverhältnisses damit einverstanden war, daß auf sein Arbeitsverhältnis die genannten Tarifwerk Anwendung finden sollten.
b) Soweit die Revision weiterhin geltend gemacht hat, für die Vertragsbeziehungen der Parteien gelte branche- und betriebsüblicherweise, daß die hier streitigen An- und Abfahrzeiten nicht als Arbeitsleistungen abzugelten seiend, ist das Landesarbeitsgericht nach dem Ergebnis der von ihm durchgeführten Beweisaufnahme zu der Annahme gekommen, das sei nicht festzustellen. An diese Feststellungen des Landesarbeitsgerichts ist das Revisionsgericht nach näherer Maßgabe des § 561 Abs. 2 ZPO gebunden. Einen zulässigen und begründeten Revisionsangriff hiergegen hat die Beklagte nicht erhoben.
c) Soweit die Beklagte weiter angeführt hat, jedenfalls seien die Reisezeiten des Klägers durch die dem Kläger täglich gewährten „Reisespesen” in Höhe von 2,50 DM abgegolten, ist das abwegig. Das Landesarbeitsgericht hat bereits zutreffend darauf hingewiesen, daß unterschiedslos für jeden Reisetag gezahlte Reisespesen dieser Höhe nicht als Vergütung für die Arbeit, sondern als eine Entschädigung für reisebedingten Mehraufwand angesehen werden können.
d) In der Revisionsbegründungsschrift hat die Beklagte im einzelnen ausgerechnet, der Kläger sei im Durchschnitt täglich nur 3/4 Stunden unterwegs gewesen. Sie will damit möglicherweise geltend machen, die vom Kläger verlangten Reisezeiten seien umfangmäßig nur solche, die dem Weg eines nicht auswärts tätig werdenden, Arbeitnehmers zu seiner Betriebsstätte gleichkämen und daher ebensowenig wie der Weg von der Wohnurigt zur Betriebsstätte zu bezahlen seien. Damit geht die Beklagte aber von einem Sachverhalt aus, wie er in der Revisionsinstanz nicht zugrundegelegt werden kann. Das Landesarbeitsgericht ist in tatsächlicher Beziehung entsprechend der Darstellung des Klägers davon ausgegangen, daß der Kläger an 137 Arbeitstagen insgesamt 372, also pro Arbeitstag rund 2 ¾ Stunden, auf Reisen war und daß sich darunter nur Reisen zu Kontrollpunkten außerhalb D., u.a. in D., S., E., W. und M. befanden, die nicht mit dem normalen Weg eines Arbeitnehmers von der Wohnung zur Betriebsstätte verglichen werden können.
e) Die Revision hat weiterhin gegen eine Entgeltpflichtigkeit der hier streitigen Reise angeführt, die Tätigkeit des Klägers habe in erheblichem Umfang Arbeitsbereitschaft und Bereitschaftsdienst enthalten, so daß er weder Überstundenvergütung noch Mehrarbeitszuschlag verlangen könne, seine Gesamtarbeit vielmehr durch das ihm gewährte Monatsgehalt als abgegolten anzusehen sei. Auch hiermit kann die Revision nichts ausrichten. Dafür, daß die Arbeit des Klägers an den Kontrollorten Arbeitsbereitschaft oder Bereitschaftsdienst (zum Begriff vgl. statt aller: BAG 8, 25 [27, 28] = AP Nr. 5 zu § 7 AZO und BAG 8, 63 [71] = AP Nr. 1 zu § 13 AZO) enthielt, hat das Landesarbeitsgericht in tatsächlicher Beziehung nichts festgestellt. Prozessuale Rügen gegen fehlende Feststellungen sind hiergegen von der Revision nicht erhoben worden. Demnach kann für die Revisionsinstanz auch nicht in Betracht gezogen werden, wegen erheblicher Arbeitsbereitschaft des Klägers seien die An- und Abreisezeiten in das für die übrige Arbeit gewährte Entgelt einbezogen worden. Die hier streitigen An- und Abfahrzeiten des Klägers selbst können ebenfalls nicht als reiner Bereitschaftsdienst oder als Arbeitsbereitschaft unter dem Gesichtspunkt in Betracht gezogen werden, daß sie dann geringer als volle Arbeit des Klägers zu vergüten seien. „Bereitschaftsdienst” bedeutet Bereithalten der Arbeitsleistung durch körperliche Anwesenheit oder leichte Erreichbarkeit des Arbeitnehmers. Unter „Arbeitsbereitschaft” sind Zeiten wacher Achtsamkeit im Zustand der Entspannung zu verstehen (zu beiden vgl. BAG 8, 25 [27, 28] = AP Nr. 5 zu § 7 AZO). Von beidem kann aber bei den Reisen, die der Kläger ausgeführt hat, keine Rede sein, solange dabei nicht feststeht, daß die Anstrengungen, die Tagesreisen mit wechselnden Zielen erfahrungsgemäß mit sich bringen, unter besonderen entlastenden Bedingungen – wie z.B. Schlaf- oder Liegewagenbenutzung und dergleichen – ausgeführt wurden.
f) Soweit die Revision geltend gemacht hat, etwaige Entgeltansprüche des Klägers seien wegen Nichtbeachtung tariflicher Ausschlußfristen verfallen, ist oben bereits ausgeführt, daß die von der Beklagten in Betracht gezogenen Tarifwerke für das Arbeitsverhältnis des Klägers keine Geltung beanspruchen können. Demnach können auch tarifliche Ausschlußfristen die Ansprüche des Klägers nicht berühren.
g) Zutreffend ist schließlich die Annahme des Landesarbeitsgerichts, der Kläger habe seine Ansprüche auch nicht verwirkt. Verwirkung setzt neben anderem ein illoyales Verhalten des Anspruchsberechtigten voraus (vgl. statt aller: BAG 6, 165 [168] = AP Nr. 9 zu § 242 BGB Verwirkung). Es ist vom Landesarbeitsgericht aber kein Sachverhalt des Inhaltes festgestellt, daß die Beklagte trotz der vom Kläger behaupteten Reklamation seiner Ansprüche nach dem 1. November 1956 die berechtigte Erwartung hegen durfte, der Kläger werde seine Reisegelder nicht mehr geltend machen.
4. Ist somit nach dem zu Ziffer 2 und 3 dieser Entscheidungsgründe insgesamt Ausgeführten davon auszugeben, daß die Beklagte nach dem Vertrag vom 3. Juni 1956 dem Kläger auch die Zeiten für die Reise zu und von den Kontrollorten als Arbeitsleistung zu vergüten und dafür auch Mehrarbeitszuschläge zu zahlen hat, so ist das entsprechende Rechenwerk des Kläger, das das Landesarbeitsgericht der Verurteilung der Beklagten zugrundegelegt hat, möglicherweise von einem Rechtsfehler beeinflußt, den die Revision mit Recht aufgegriffen hat.
Wenn nach dem oben zu Ziffer 2 dieser Entscheidungsgründe Ausgeführten der Arbeitnehmer für den Weg von der Wohnung zur Betriebsstätte kein Entgelt, wohl aber solches für den Weg von der Betriebsstätte zu außerhalb der Betriebsstätte gelegenen Arbeitsplätzen fordern kann, so ergibt sich die Frage, wie die Rechtslage dann ist, wenn der Arbeitnehmer von der Wohnung unmittelbar die außerhalb der Betriebsstätte gelegenen Arbeitsplätze aufsucht und dabei den Weg von der Wohnung zur Betriebsstätte selbst einspart. In einem solchen Fall die eingesparte Zeit zur Betriebsstätte nicht von der für die Anreise nach auswärts aufgewendeten Zeit abzuziehen, müßte unbillig erscheinen. Denn wenn in der Regel ein Arbeitnehmer die Zeit für den Weg von seiner Wohnung zu der Betriebsstätte selbst tragen muß und nicht vergütet erhält, besteht kein sachlicher Grund, das bei einem auswärts Verwendeten anders zu handhaben. Das führt dazu, wie das bereits für ähnlich gelagerte Fälle im Bereich des § 4 Vorl. LAO anerkannt ist (vgl. Molitor, Vorl. LAO, 2. Aufl., 1952 § 4 Bem. 3 mit weiteren Nachweisen; Fendel, Das Recht der Landwirtschaft, 1958, S. 168; Nipperdey, Handwörterbuch der Rechtswissenschaft, herausgegeben von Stier-Somlo und Elster, Band III, Stichwort „Landarbeiter”), daß der Arbeitnehmer, der seine Reise zu einem außerhalb des Betriebes belegenen Arbeitsplatz von seiner Wohnung aus antritt, sich von den Anreisezeiten ab Wohnung zum auswärtigen Arbeitsplatz diejenige Zeit abziehen lassen muß, die er normalerweise für den Anweg zum Betrieb ohne Vergütung verwenden müßte.
Aus den vom Kläger angegebenen Zeiten für die Fahrten zu und von den Kontrollplätzen ist im einzelnen nicht zu entnehmen, wie er sie berechnet hat. Es ist daher möglich, daß er die von ihm angegebenen Zeiten nicht so berechnet hat, als sei die Reise vom Betrieb der Beklagten, evtl. unter Einsparung des Weges des Klägers von seiner Wohnung zum Betrieb, ausgeführt. Unter diesen Umständen kann das angefochtene Urteil insoweit auf einem Rechtsfehler im Sinne des § 549 Abs. 1 ZPO zum Nachteil der Beklagten beruhen.
Da das Revisionsgericht die dazu erforderlichen tatsächlichen Feststellungen nicht treffen kann, macht das hinsichtlich des vom Landesarbeitsgericht angenommenen Betrages der Klageforderung, deren Berechtigung dem Grunde nach aber nach dem bisher Ausgeführten jedenfalls feststeht und vom Revisionsgericht insoweit gemäß § 304 Abs. 1 ZPO auch festgestellt werden kann, eine Aufhebung des angefochtenen Urteils und eine Zurückverweisung zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung über den Betrag der Forderung notwendig (§§ 565 Abs. 1, Abs. 3 Ziffer 1 ZPO). Im übrigen war die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Unterschriften
gez. Dr. Boldt, Dr. Stumpf, Dr. Holschemacher, Dr. Eck, E. Schäfer
Fundstellen
Haufe-Index 1178822 |
Nachschlagewerk BGH |