Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorruhestand und befreiende Lebensversicherung
Leitsatz (redaktionell)
1. Der Anspruch eines Arbeitnehmers auf Vorruhestandsleistungen erlischt, wenn der Arbeitnehmer vorgezogenes Altersruhegeld oder eine vergleichbare Leistung einer Lebensversicherung beanspruchen kann.
2. Hat ein Arbeitnehmer eine befreiende Lebensversicherung abgeschlossen, braucht er diese nicht vorzeitig auf das 63. Lebensjahr fällig zu stellen, wenn ihm dies nicht zumutbar ist (Bestätigung der Entscheidung des Senats vom 11. Oktober 1988 - 3 AZR 804/87 = AP Nr 2 zu § 5 VRG, zum Abdruck in der Amtlichen Sammlung des Gerichts vorgesehen).
3. Der Änderungstarifvertrag zum Vorruhestandstarifvertrag im Baugewerbe vom 27. Oktober 1988 ist unwirksam, soweit er den Anspruch auf Vorruhestandsgeld eines bereits in den Vorruhestand getretenen Arbeitnehmers beseitigt.
Orientierungssatz
1. Eine unechte Rückwirkung ist dann gegeben, wenn sich die Normen zwar unmittelbar auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte erstrecken, damit aber zugleich die betroffenen Rechtspositionen nachträglich im ganzen entwerten.
2. Zur Bestimmung der verfassungsrechtlichen Grenzen einer Rechtsnorm mit unechter Rückwirkung ist das Vertrauen des Einzelnen auf den Fortbestand einer bestimmten Regelung mit der Bedeutung des mit dem Tarifvertrag verfolgten Anliegens etwa das Wohl einer Branche, abzuwägen.
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, ob der Anspruch des Klägers auf Vorruhestandsgeld am 1. November 1989 erlischt.
Der im Jahre 1926 geborene Kläger war seit dem 16. Mai 1967 als technischer Angestellter bei der Beklagten beschäftigt. Er trat am 31. Januar 1985 auf seinen Antrag in den Vorruhestand. Seit dem 1. Februar 1985 zahlte die Beklagte ihm Vorruhestandsgeld in Höhe von monatlich 3.821,40 DM. Das Rechtsverhältnis richtete sich nach dem allgemeinverbindlichen Tarifvertrag über den Vorruhestand im Baugewerbe vom 26. September 1984 (Vorruhestandstarifvertrag). Das Vorruhestandsgeld wird der Beklagten von der Zusatzversorgungskasse erstattet. Diese kündigte mit einem Vorbescheid vom 12. Juli 1985 an, daß die Erstattung mit dem 31. Oktober 1989 ende, weil der Kläger mit Vollendung des 63. Lebensjahres - Oktober 1989 - durch eine befreiende Lebensversicherung versorgt sei. Darauf weigerte sich die Beklagte, dem Kläger über den 31. Oktober 1989 hinaus Vorruhestandsgeld zu zahlen.
Der Kläger war bis Oktober 1963 insgesamt 18,9 Versicherungsjahre (227 Monate) in der gesetzlichen Rentenversicherung versichert. Seitdem hat er befreiende Lebensversicherungen abgeschlossen. Eine Versicherung wird am 1. Juli 1991 fällig mit einer voraussichtlichen Ablaufleistung von 36.339,10 DM und einer sich daraus ergebenden Rente von monatlich 224,-- DM. Zwei weitere Lebensversicherungen werden nach dem 1. November 1991 fällig mit einem Kapitalbetrag von voraussichtlich insgesamt 307.691,-- DM oder wahlweise einer Rente von insgesamt 1.896,-- DM monatlich.
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, die Beklagte müsse ihm nach dem Vorruhestandstarifvertrag über den 31. Oktober 1989 hinaus bis zum 31. Oktober 1991 Vorruhestandsgeld zahlen. Auf die befreienden Lebensversicherungen könne sich die Beklagte nicht berufen, da diese erst zu einem späteren Zeitpunkt fällig würden. Löse er seine Lebensversicherungen vorzeitig zum 31. Oktober 1989 auf, führe dies zu einer um 23,65 % geringeren Rentenzahlung. Dies sei ihm nicht zumutbar.
Der Kläger hat - nach Klarstellung in der Revisionsinstanz - beantragt
festzustellen, daß die Beklagte verpflichtet
ist, ihm auch für die Zeit vom 1. November
1989 bis 31. Oktober 1991 Vorruhestandsgeld
zu zahlen, für die Zeit vom 1. Juli 1991 bis
31. Oktober 1991 nur in Höhe von 227/558 des
Gesamtbetrages.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Mit den befreienden Lebensversicherungen habe der Kläger eine vergleichbare Altersversorgung im Sinne der §§ 2 Abs. 2 VRG, 8 Abs. 1 Vorruhestandstarifvertrag, die er zum Ablauf des 63. Lebensjahres in Anspruch nehmen müsse. Der Vorruhestandstarifvertrag gehe davon aus, daß der Übergang vom Vorruhestand zum Ruhestand zum frühestmöglichen Zeitpunkt erfolgen müsse. Auch die Bundesanstalt für Arbeit stelle nach ihrem Runderlaß 82/85 vom 14. Juni 1985 zu diesem Zeitpunkt ihre Leistungen ein.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Hiergegen richten sich die Revisionen der Beklagten und der Streitverkündeten, mit der sie weiterhin die Abweisung der Klage erreichen wollen.
Während des Revisionsverfahrens wurde durch den Tarifvertrag vom 27. Oktober 1988 zur Änderung des Tarifvertrages über den Vorruhestand im Baugewerbe vom 26. September 1984 § 8 Vorruhestandstarifvertrag neu gefaßt. Der Änderungstarifvertrag trat am 15. November 1988 in Kraft. Er wurde mit Wirkung vom 15. November 1988 für allgemeinverbindlich erklärt (Bundesanzeiger vom 28. Januar 1989 Nr. 20 S. 497 und vom 29. März 1989 Nr. 59 S. 1610). Beklagte und Streitverkündete meinen, daß zumindest nach der Neufassung die Ansprüche des Klägers mit dem 31. Oktober 1989 erlöschen.
Entscheidungsgründe
Die Revisionen sind nicht begründet. Der Kläger kann bis zum 31. Oktober 1991 Vorruhestandsgeld verlangen, allerdings ab 1. Juli 1991 nur in Höhe von 227/558 des geschuldeten Betrages.
I. Für den Kläger ist ein Anspruch auf Vorruhestandsgeld entstanden. Nach § 2 des Vorruhestandstarifvertrages vom 26. September 1984 entsteht ein Anspruch auf Vorruhestandsgeld, wenn der Arbeitnehmer das 58. Lebensjahr vollendet hat, innerhalb der letzten 15 Jahre vor Beginn des Vorruhestandes eine Wartezeit von 120 Monaten zurückgelegt hat, bestimmte versicherungsrechtliche Mindestvoraussetzungen erfüllte und mindestens zwölf Monate in den Diensten seines letzten Arbeitgebers gestanden hat. Diese Voraussetzungen hat das Landesarbeitsgericht festgestellt. Der im Jahre 1926 geborene Kläger war am 31. Januar 1985 59 Jahre alt. Er war seit 15 Jahren bei der Beklagten beschäftigt und während dieser Zeit zur Arbeitslosenversicherung beitragspflichtig.
II. Der Anspruch auf Vorruhestandsgeld erlischt nach dem Vorruhestandstarifvertrag vom 26. September 1984 am 30. Juni 1991 nur teilweise.
1. Nach § 8 Abs. 1 Vorruhestandstarifvertrag vom 26. September 1984 erlischt der Anspruch auf Vorruhestandsgeld mit Ablauf des Kalendermonats vor dem Monat, von dem an der ausgeschiedene Arbeitnehmer Altersruhegeld vor Vollendung des 65. Lebensjahres oder eine andere der in § 2 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b und Abs. 2 VRG genannten Leistungen beanspruchen kann.
Vor Vollendung des 65. Lebensjahres konnte der Kläger keine der in § 2 Abs. 1 Nr. 1 b VRG genannten Leistungen (Altersruhegeld, Knappschaftsausgleichsleistungen oder ähnliche Bezüge öffentlich-rechtlicher Art) beanspruchen. Das Landesarbeitsgericht hat festgestellt, daß der Kläger mit Vollendung des 63. Lebensjahres keine Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung beanspruchen konnte, weil er die vorgesehene Wartefrist von 35 Jahren nicht erfüllte (§ 25 Abs. 1, 7 Satz 1 AVG, § 1248 Abs. 1, 7 Satz 1 RV0).
Dem in § 2 Abs. 1 Nr. 1 b VRG genannten Sozialversicherungsleistungen stehen vergleichbare Leistungen einer Versicherungs- oder Versorgungseinrichtung gleich, wenn der ausgeschiedene Arbeitnehmer in der vorhergehenden Beschäftigung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung befreit war. Zu den vergleichbaren Leistungen gehören Leistungen aus einer befreienden Lebensversicherung (BAG Urteil vom 11. Oktober 1988 - 3 AZR 639/86 - AP Nr. 1 zu § 5 VRG, zu III 1 der Gründe; Urteil vom 11. Oktober 1988 - 3 AZR 804/87 - AP Nr. 2 zu § 5 VRG, zu III 1 b der Gründe; beide Urteile zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung des Gerichts vorgesehen). Der Kläger war nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts seit dem 1. Juli 1965 von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung befreit, da sein Einkommen die Versicherungspflichtgrenze überstieg und er seine Befreiung beantragt hat.
Diese Leistungen aus den befreienden Lebensversicherungen werden erst am 1. Juli 1991 bzw. nach dem 1. November 1991 fällig.
2. Der Kläger ist nicht gehalten, die Leistungen aus den befreienden Lebensversicherungen vorzeitig fällig zu stellen. Nach § 8 Abs. 2 Vorruhestandstarifvertrag vom 26. September 1984 hat der ausgeschiedene Arbeitnehmer frühestmöglich den Antrag auf Umwandlung des Vorruhestandsverhältnisses in ein Ruhestandsverhältnis zu stellen und die Versicherungs- bzw. Sozialversicherungsleistungen zu beantragen. Ein derartiger Antrag kann von dem Arbeitnehmer aber nur dann verlangt werden, wenn er zumutbar ist. Er ist unzumutbar, wenn die geplante Altersversorgung dadurch gefährdet würde. Dies hat der Senat im einzelnen begründet (BAG Urteil vom 11. Oktober 1988 - 3 AZR 804/87 - AP Nr. 2 zu § 5 VRG, zu III 1 c der Gründe, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung des Gerichts vorgesehen). Unzumutbar ist eine vorzeitige Fälligstellung der Lebensversicherung, wenn sie zu Renteneinbußen von nahezu einem Viertel des erwarteten Betrages führt.
An dieser Rechtsprechung hält der Senat fest.
Aus § 8 Abs. 2 Vorruhestandstarifvertrag vom 26. September 1984 ergibt sich nur, daß der Arbeitnehmer den Antrag auf Überleitung in den Ruhestand "frühestmöglich" stellen muß. Aus dem Wort "frühestmöglich" ist nicht abzuleiten, daß dies bei Erreichen des 63. Lebensjahres zu erfolgen hat. Es soll nur auf den Zeitpunkt ankommen, zu dem der Antrag nach der Versorgungsplanung möglich ist.
Aus dem Grundsatz der Gleichbehandlung (§ 242 BGB) folgt nicht, daß Arbeitnehmer, deren Versorgungsbedarf aus einer befreienden Lebensversicherung gedeckt wird, zu demselben Zeitpunkt in den Ruhestand treten müssen, in dem das vorzeitige Altersruhegeld aus der gesetzlichen Rentenversicherung beantragt werden kann. Die Versorgungsberechtigten befinden sich in einer unterschiedlichen Lage. Die Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung wird im Falle vorzeitiger Beendigung des Arbeitsverhältnisses nur ratierlich gekürzt. Dagegen führen die versicherungsmathematischen Abschläge bei einer freiwilligen Lebensversicherung in aller Regel zu gewichtigen Renteneinbußen.
Richtig ist zwar, daß die Arbeitgeber bei Versicherten in der gesetzlichen Rentenversicherung und bei Bezugsberechtigten aus einer befreienden Lebensversicherung unterschiedlich belastet werden. Die unterschiedlichen Auswirkungen der gewählten Versorgung beruhen aber auf dem den Arbeitnehmern durch den Gesetzgeber eingeräumten Wahlrecht. Diese Begünstigung der Arbeitnehmer durch den Gesetzgeber kann nicht durch die Rechtsprechung unterlaufen werden.
Schließlich ist auch der Einwand nicht berechtigt, die Verpflichtung zur vorzeitigen Fälligstellung mit den dabei anfallenden versicherungsmathematischen Abschlägen gleiche nur die strukturellen Vorteile einer befreienden Lebensversicherung aus. Es mag richtig sein, daß bei dem vorzeitigen Eintritt eines Versicherungsfalles der Versicherungsberechtigte einer Erlebens- und Todesfallversicherung bereits die volle Deckungssumme erhält. Es mag auch zutreffen, daß bei vorzeitiger Auszahlung der um die versicherungsmathematischen Abschläge gekürzten Versicherungssumme und deren zinsgünstigen Wiederanlage die Abschläge ausgeglichen werden. Es darf aber nicht übersehen werden, daß der Versicherungsberechtigte genötigt ist, die Versicherungssumme zu verbrauchen und in aller Regel nicht in der Lage sein wird, sie anderweitig vollständig anzulegen und die Abschläge auszugleichen.
3. Damit ergibt sich, daß der Anspruch auf Vorruhestandsgeld erst mit der Fälligkeit der ersten Lebensversicherung teilweise erlischt. Dies ist am 1. Juli 1991 in Höhe von 331/558 der Fall (zur Berechnung des Teilbetrages vgl. Urteil des Senats vom 11. Oktober 1988 - 3 AZR 639/86 - AP Nr. 1 zu § 5 VRG, zu III 3 der Gründe).
III. An dieser Rechtslage hat sich durch den Vorruhestandstarifvertrag vom 27. Oktober 1988 nichts geändert. Die Änderung ist unwirksam, soweit dieser Änderungstarifvertrag in die vom Kläger erworbenen Vorruhestandsanwartschaften eingreift.
1. Nach § 8 Abs. 1 ff. Vorruhestandsänderungstarifvertrag vom 27. Oktober 1988 wäre der Anspruch des Klägers auf Vorruhestandsleistungen am 31. Oktober 1989 erloschen. Diese Bestimmung lautet:
"1. Der Anspruch auf Vorruhestandsgeld erlischt
mit Ablauf des Kalendermonats vor dem Monat,
von dem an der ausgeschiedene Arbeitnehmer
eine der in § 2 Abs. 1 Nr. 1 b und Abs. 2
VRG genannten Leistungen beanspruchen kann
bzw. - im Fall einer Leistung gemäß § 2
Abs. 2 VRG - vor Fälligkeit in Anspruch
nimmt, wenn sie die Hauptversorgung des aus-
geschiedenen Arbeitnehmers darstellt oder als
Hauptversorgung anzusehen ist, weil neben ihr
keine weitere dieser Leistungen beansprucht
werden kann. Wird eine Leistung gemäß § 2
Abs. 2 VRG nicht vor Fälligkeit in Anspruch
genommen, so erlischt der Anspruch auf Vor-
ruhestandsgeld bei Fälligkeit dieser Leistung.
Ist die Leistung erst nach Vollendung des
63. Lebensjahres fällig, so erlischt der An-
spruch spätestens zu dem Zeitpunkt, zu welchem
ihre Inanspruchnahme vor Fälligkeit dem ausge-
schiedenen Arbeitnehmer zumutbar ist. Die Prüfung,
welche von mehreren Leistungen im Sinne des Satzes
1 die Hauptversorgung darstellt, ist gemäß den
Absätzen 2 und 3 vorzunehmen. Die Prüfung, ob die
Inanspruchnahme einer Leistung gemäß § 2 Abs. 2
VRG vor Fälligkeit zumutbar ist, ist gemäß Abs. 4
vorzunehmen.
2. Kann der ausgeschiedene Arbeitnehmer mehrere der
in § 2 Abs. 1 Nr. 1 b VRG genannten Leistungen
beanspruchen, so stellt, wenn mehrere Altersrenten
beansprucht werden können, diejenige Alters-
rente die Hauptversorgung dar, für deren Berechnung
mehr als die Hälfte der insgesamt zurückgelegten
Zeiten der Beitragspflicht zur gesetzlichen Renten-
versicherung (nur Zeiten mit Pflichtbeiträgen,
keine Ausfall- oder Ersatzzeiten, keine Zeiten mit
freiwilligen Beiträgen) zugrunde gelegt werden
muß. Dabei ist auf den Zeitpunkt abzustellen, an
dem frühestens eine der Altersrenten beansprucht
werden kann; bei Beginn des Vorruhestandes zu
einem späteren Zeitpunkt ist dieser maßgebend.
Kann neben einer Altersrente eine Beamtenversorgung
oder eine vergleichbare Versorgung beansprucht wer-
den, gelten die Sätze 1 und 2 entsprechend.
3. Kann der ausgeschiedene Arbeitnehmer sowohl eine
Leistung gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 1 b VRG als auch
eine Leistung gemäß § 2 Abs. 2 VRG beanspruchen,
so ist die Leistung aus dem Versicherungs- bzw.
Versorgungsvertrag gemäß § 2 Abs. 2 VRG die
Hauptversorgung, wenn die zeitliche Dauer des
Versicherungs- bzw. Versorgungsvertrages bis zu
der tatsächlichen oder zumutbaren Inanspruchnahme,
längstens bis zur Fälligkeit, länger ist als
die Zeit der Beitragspflicht in der gesetzlichen
Rentenversicherung (nur Zeiten mit Pflichtbeiträgen,
keine Ausfall- bzw. Ersatzzeiten, keine Zeiten mit
freiwilligen Beiträgen).
4. Die Inanspruchnahme einer Leistung gemäß § 2
Abs. 2 VRG vor Fälligkeit ist dem ausgeschiedenen
Arbeitnehmer ab Vollendung des 63. Lebensjahres
zumutbar, sobald er mit oder nach diesem Zeitpunkt
ohne die Befreiung von der gesetzlichen Renten-
versicherungspflicht einen Anspruch auf flexibles
Altersruhegeld erworben haben würde.
Der Kläger hat seit seiner Befreiung von der Rentenversicherungspflicht bis zum Beginn des Vorruhestandes 331 Monatsbeiträge zur befreienden Lebensversicherung, dagegen nur 227 Monatspflichtbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung geleistet. Hauptversorgung im Sinne des Tarifvertrages ist damit die befreiende Lebensversicherung. Ohne die Befreiung von der gesetzlichen Rentenversicherung hätte der Kläger mit Vollendung des 63. Lebensjahres die Wartefrist von 35 Jahren (§ 25 Abs. 1, 7 Satz 1 AVG, § 1248 Abs. 1, 7 Satz 1 RV0) überschritten und damit einen Anspruch auf flexibles Altersruhegeld erworben. Damit würde nach dem Vorruhestandstarifvertrag in der Fassung vom 27. Oktober 1988 der Anspruch auf Vorruhestandsgeld mit Erreichen des 63. Lebensjahres am 31. Oktober 1989 vollständig erlöschen.
2. Der Vorruhestandstarifvertrag in der Fassung vom 27.Oktober 1988 konnte jedoch die Ansprüche der bereits im Vorruhestand lebenden Arbeitnehmer nicht mehr beseitigen.
a) Zwar mag der Änderungstarifvertrag vom 27. Oktober 1988 nach seinem Geltungsbereich auch in den Vorruhestand getretene Arbeitnehmer erfassen. Der Senat ist weiter davon ausgegangen, daß die Tarifvertragsparteien die Rechtsverhältnisse dieser Arbeitnehmer für die Dauer des Vorruhestandes regeln können (BAG Urteil vom 10. Oktober 1989 - 3 AZR 200/88 -, zu II 2 der Gründe, zur Veröffentlichung vorgesehen). Die Tarifvertragsparteien können schließlich eine Tarifnorm sowohl zugunsten wie auch zum Nachteil der betroffenen Arbeitnehmer ändern (BAG Urteil vom 1. Juni 1970 - 3 AZR 166/69 - AP Nr. 143 zu § 242 BGB Ruhegehalt, zu II 3 c der Gründe; Urteil vom 28. November 1984 - 5 AZR 195/83 - AP Nr. 2 zu § 4 TVG Bestimmungsrecht, zu 1 a, 3 a der Gründe, mit weiterem Nachweis).
Diese Regelungsbefugnis besteht aber nicht unbegrenzt. Abändernde (verschlechternde) Tarifverträge sind von den Gerichten darauf zu überprüfen, ob sie gegen das Grundgesetz, gegen zwingendes Gesetzesrecht, gegen die guten Sitten oder gegen tragende Grundsätze des Arbeitsrechts verstoßen (BAGE 22, 252, 266 f. = AP Nr. 142 zu § 242 BGB Ruhegehalt, zu B IV 3 der Gründe; Urteil vom 28. November 1984 - 5 AZR 195/83 - AP Nr. 2 zu § 4 TVG Bestimmungsrecht, zu 3 der Gründe).
b) Im vorliegenden Falle haben die Tarifvertragsparteien mit einer vollständigen Beseitigung des Anspruchs auf Vorruhestandsleistungen den Vertrauensgrundsatz (Art. 20 GG) verletzt. Dies führt zur Unwirksamkeit des Tarifvertrages, soweit durch ihn bereits in den Vorruhestand getretene Arbeitnehmer betroffen sind. Das Vertrauen auf den Fortbestand rechtlicher Regelungen setzen der Rückwirkung von Gesetzen und Tarifverträgen Grenzen (vgl. BVerfGE 13, 261, 271; 15, 313, 324).
Ausgeschlossen ist eine echte Rückwirkung von Rechtsnormen. Sie liegt dann vor, wenn die Rechtsnormen nachträglich ändernd in bereits abgewickelte, der Vergangenheit angehörende Tatbestände eingreifen (vgl. BVerfGE 11, 139, 145 f.; 14, 288, 297). In diesem Sinne hat sich der Tarifvertrag vom 27. Oktober 1988 keine Rückwirkung beigemessen. Im Zeitpunkt der Änderung bestand das Vorruhestandsverhältnis noch; es mußten Zahlungen erst nach Inkrafttreten der Änderung geleistet werden.
Aber auch eine unechte Rückwirkung von Rechtsnormen ist nicht schrankenlos möglich. Eine unechte Rückwirkung ist dann gegeben, wenn sich die Normen zwar unmittelbar auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte erstrecken, damit aber zugleich die betroffenen Rechtspositionen nachträglich im ganzen entwerten (BVerfGE 14, 288, 297; 55, 185, 203 f.; 75, 246, 279 f.). Der Vertrauensgrundsatz ist verletzt, wenn die Rechtsnorm einen entwertenden Eingriff vornimmt, mit dem der Tarifunterworfene nicht rechnen konnte (vgl. BVerfGE 1, 264, 280; 2, 237, 266; 8, 274, 304; 14, 288, 297 f.). Zur Bestimmung der verfassungsrechtlichen Grenzen einer Rechtsnorm mit unechter Rückwirkung ist das Vertrauen des einzelnen auf den Fortbestand einer bestimmten Regelung mit der Bedeutung des mit dem Tarifvertrag verfolgten Anliegens, etwa das Wohl einer Branche, abzuwägen (vgl. BVerfGE 25, 142, 154; 75, 246, 280).
Das Vertrauen des Klägers verdient den Vorrang vor den Interessen der Tarifvertragsparteien. Als der Kläger in den Vorruhestand trat, konnte er davon ausgehen, daß seine Existenz jedenfalls bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres durch Vorruhestandsleistungen gesichert war. Daß der Vorruhestandstarifvertrag, der bis zum 31. Dezember 1995 befristet war, alsbald geändert und den Lebensunterhalt der Arbeitnehmer nach Vollendung des 63. Lebensjahres gefährden würde, war nicht abzusehen. Der Änderungstarifvertrag vom 27. Oktober 1988 hat die Rechtsposition des Klägers zu einem Zeitpunkt beseitigt, in dem er - unter Berücksichtigung der Chancen auf dem Arbeitsmarkt - keine Entscheidungen mehr treffen konnte, um den nachteiligen Folgen der Änderung zu entgehen.
Dr. Heither Schaub Griebeling
Dr. Hoppe Arntzen
Fundstellen
BAGE 63, 111-119 (LT1-3) |
BAGE, 111 |
DB 1990, 1095-1096 (LT1-3) |
EBE/BAG 1990, 51-53 (LT1-3) |
EWiR 1990, 583 (L1-3) |
NZA 1990, 346-348 (LT1-3) |
RdA 1990, 125 |
SAE 1990, 303-306 (LT1-3) |
AP § 1 TVG Vorruhestand (LT1-3), Nr 2 |
AR-Blattei, ES 1750 Nr 11 (LT1-3) |
AR-Blattei, Vorruhestand Entsch 11 (LT1-3) |
EzA § 2 VRG Bauindustrie, Nr 5 (LT1-3) |