Entscheidungsstichwort (Thema)
Offensichtlich unrichtige Streitwertfestsetzung
Leitsatz (redaktionell)
1. Das Landesarbeitsgericht ist für die Beurteilung des Beschwerdewerts nach § 64 Abs 2 ArbGG nur dann an die Streitwertfestsetzung im arbeitsgerichtlichen Urteil nicht gebunden, wenn diese offensichtlich unrichtig ist.
2. Offensichtlich unrichtig ist die Streitwertfestsetzung, wenn sie in jeder Beziehung unverständlich und unter keinem vernünftigen Gesichtspunkt zu rechtfertigen ist und außerdem der zutreffende Streitwert auf den ersten Blick die für den Beschwerdewert maßgebliche Grenze übersteigt oder unterschreitet (ständige Rechtsprechung vgl zuletzt BAG Beschluß vom 22. Mai 1984 - 2 AZB 25/82 - AP Nr 7 zu § 12 ArbGG 1979).
Normenkette
BPersVG § 75; BetrVG § 87 Abs. 1 Nr. 1; ArbGG § 64 Fassung: 1969-07-02, § 61 Fassung: 1969-07-02
Verfahrensgang
LAG Niedersachsen (Entscheidung vom 10.08.1983; Aktenzeichen 5 Sa 42/83) |
ArbG Hannover (Entscheidung vom 19.11.1982; Aktenzeichen 1 Ca 325/82) |
Tatbestand
Die Parteien streiten in der Revisionsinstanz darüber, ob die Berufung der Beklagten statthaft war.
Der Kläger war bei der Beklagten seit dem 1. Oktober 1960 als Elektriker beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis findet der Lohntarifvertrag für die Arbeiter der Deutschen Bundesbahn (LTV) in der jeweils gültigen Fassung nebst Anlagen Anwendung. § 2 LTV verweist wegen der Pflichten aus dem Arbeitsvertrag und der Ahndung von Ordnungswidrigkeiten auf die Arbeitsordnung (Anlage 10 zum LTV). Nach Ziff. 16 der Arbeitsordnung können bei schuldhafter Verletzung der Dienstpflichten, insbesondere bei Verstößen gegen Sicherheit und Ordnung des Betriebes als Ordnungsmaßnahmen Verweis und Geldbuße verfügt werden. Ziff. 17 bestimmt, daß Art und Höhe der Ordnungsmaßnahme sich nach der Schwere der Verfehlung richten. Gemäß Ziff. 18 darf die Geldbuße 1/30 des Monatslohnes nach Anlage 2 LTV nicht übersteigen.
Am 8. September 1981 stellten der Kläger und die von ihm geführte Kolonne trotz entgegenstehender Aufforderung des zuständigen Oberwerkmeisters etwa 1 1/4 Stunden vor Ende der regulären Dienstzeit die Arbeit auf einer auswärtigen Arbeitsstelle ein und traten die Heimreise an.
Mit Schreiben vom 22. April 1982 erteilte die Beklagte dem Kläger einen Verweis, für den sie folgende Gründe anführte:
"Vorzeitiges Verlassen des auswärtigen
Beschäftigungsortes mit Einflußnahme auf
die Mitarbeiter Ihrer Gruppe trotz ein-
deutigen Auftrag durch den aufsichtsfüh-
renden Werkmeister, Verstoß gegen die
AO/Arb der DB, Pflichten aus dem Arbeits-
vertrag Abs (2) und gegen die Ordnung
des Betriebes (16)."
Der örtliche Personalrat hatte seine Zustimmung zu der vorgesehenen Ordnungsmaßnahme mit Schreiben vom 12. März 1982 verweigert.
Der Bruttolohn des Klägers betrug im April 1982 3.228,36 DM.
Mit seiner Klage begehrt der Kläger die Entfernung des Verweises aus seiner Personalakte. Er hat vorgetragen, das vorzeitige Dienstende sei am Vortage abgesprochen gewesen. Er hat beantragt,
festzustellen, daß die dem Kläger mit
Schreiben vom 22. April 1982 erteilte
Ordnungsmaßnahme (Verweis) rechtsun-
wirksam ist;
die Beklagte zu verurteilen, den schrift-
lichen Verweis vom 22. April 1982 aus
der Personalakte des Klägers zu entfernen.
Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und dazu vorgetragen, der Kläger habe die vorgeschriebene Arbeitszeit nicht eingehalten und damit seine Arbeitsvertragspflichten verletzt.
Das Arbeitsgericht hat die Beklagte verurteilt, den schriftlichen Verweis vom 22. April 1982 aus der Personalakte des Klägers zu entfernen. Über den Feststellungsantrag hat es nicht gesondert entschieden, weil über die Frage der Wirksamkeit des Verweises bereits beim Leistungsantrag als Vorfrage mitzuentscheiden gewesen sei. Den Streitwert hat es gemäß § 61 Abs. 1 ArbGG, § 3 ZPO auf 850,-- DM festgesetzt.
Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten als nicht statthaft angesehen und sie deshalb als unzulässig verworfen. Zur Begründung hat es ausgeführt, es handele sich um eine vermögensrechtliche Streitigkeit. An die Streitwertfestsetzung des Arbeitsgerichts sei es nicht gebunden, da diese offensichtlich unrichtig sei; angemessen sei vielmehr ein Streitwert von 500,-- DM.
Mit der zugelassenen Revision erstrebt die Beklagte weiterhin die Abweisung der Klage. Sie macht geltend, es handele sich um eine nichtvermögensrechtliche Streitigkeit; im übrigen sei die Streitwertfestsetzung des Arbeitsgerichts bindend gewesen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet.
I. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung zu Unrecht als unzulässig angesehen. Dabei kann der Senat dahingestellt sein lassen, ob der Streit eine nichtvermögensrechtliche Angelegenheit betraf, in der die Berufung nach § 64 Abs. 1 ArbGG immer statthaft ist, oder ob es sich, wie das Landesarbeitsgericht angenommen hat, um eine vermögensrechtliche Streitigkeit gehandelt hat. Auch im letzteren Fall war die Berufung statthaft, weil der Wert des Beschwerdegegenstandes 800,-- DM überstieg (§ 64 Abs. 2 ArbGG).
1. Das Arbeitsgericht hat den Wert des Streitgegenstandes gemäß § 61 Abs. 1 ArbGG im Urteil auf 850,-- DM festgesetzt. An diese Festsetzung des Streitwerts ist das Berufungsgericht gebunden und muß von ihr ausgehen, wenn es beurteilt, ob der Wert des Beschwerdegegenstandes im Sinne von § 64 Abs. 2 ArbGG 800,-- DM übersteigt und deshalb die Berufung statthaft ist (BAG 44, 13 = AP Nr. 6 zu § 64 ArbGG 1979; BAG Urteil vom 24. August 1983 - 7 AZR 558/81 -, nicht veröffentlicht; BAG Beschluß vom 13. Februar 1984 - 7 AZB 22/83 -, nicht veröffentlicht; BAG Beschluß vom 22. Mai 1984 - 2 AZB 25/82 - AP Nr. 7 zu § 12 ArbGG 1979; BAG Beschluß vom 30. November 1984 - 2 AZN 572/82 (B) - AP Nr. 9 zu § 12 ArbGG 1979). Da hier die Beklagte in vollem Umfang unterlegen war und auch uneingeschränkt Berufung eingelegt hatte, stimmte der Wert des Beschwerdegegenstandes mit dem vom Arbeitsgericht festgesetzten Wert des Streitgegenstandes überein. An den festgesetzten Streitwert war das Landesarbeitsgericht nur dann nicht gebunden, wenn dieser offensichtlich unrichtig war.
Von diesen Grundsätzen ist auch das Berufungsgericht ausgegangen. Soweit es jedoch angenommen hat, das Arbeitsgericht habe den Streitwert offensichtlich unrichtig festgesetzt, hat es den Begriff der Offensichtlichkeit verkannt.
2. a) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts kann eine offensichtlich, d. h. auf den ersten Blick erkennbar unrichtige Streitwertfestsetzung nur dann angenommen werden, wenn sie in jeder Beziehung unverständlich und unter keinem vernünftigen Gesichtspunkt zu rechtfertigen ist. Dabei kommt es auf die Betrachtung aus der Sicht des mit der Rechtsmitteleinlegung beauftragten Prozeßbevollmächtigten und des mit der Prüfung des Rechtsmittels befaßten Gerichts an. Erweist sich die Wertfestsetzung als offensichtlich unrichtig, so genügt das allein nicht. Vielmehr ist unter dem Gesichtspunkt der Rechtsmittelklarheit weiter entscheidend erforderlich, daß der richtige Streitwert offensichtlich die für die Statthaftigkeit des Rechtsmittels maßgebliche Wertgrenze übersteigt. Dann ergibt sich von selbst, daß die von der unteren Instanz getroffene Wertfestsetzung offensichtlich unrichtig ist, während umgekehrt aus einer offensichtlichen Unrichtigkeit einer Wertfestsetzung noch nicht ohne weiteres folgt, ob ein die Rechtsmittelgrenze übersteigender anderer Streitwert gegeben ist. All dies gilt entsprechend für die Frage, ob wegen einer offensichtlich unrichtigen Festsetzung des Wertes des Streitgegenstandes ein Rechtsmittel nicht statthaft ist (vgl. BAG 21, 178 = AP Nr. 21 zu § 72 ArbGG 1953 Streitwertrevision; BAG Beschluß vom 24. Mai 1974 - 3 AZR 182/74 - AP Nr. 25 zu § 72 ArbGG 1953 Streitwertrevision; BAG Beschluß vom 20. Mai 1977 - 3 AZR 842/76 - AP Nr. 30 zu § 72 ArbGG 1953 Streitwertrevision; BAG Beschluß vom 13. Februar 1984 - 7 AZB 22/83 -, zu II 2 a der Gründe m. w. N., nicht veröffentlicht; BAG Beschluß vom 22. Mai 1984 - 2 AZB 25/82 - AP Nr. 7 zu § 12 ArbGG 1979, zu B II 2 b der Gründe).
b) Das Arbeitsgericht hat den Streitwert zutreffend gemäß § 3 ZPO nach freiem Ermessen festsetzen können. Das Arbeitsgericht hat nach seinen Entscheidungsgründen zwar angenommen, es liege keine Abmahnung wegen Verletzung arbeitsvertraglicher Pflichten vor, weil dem Kläger keine weiteren Folgerungen angedroht worden seien. Auch ein Verweis wegen Verstoßes gegen die betriebliche Ordnung belastet aber das Arbeitsverhältnis. Wenn das Arbeitsgericht daher einen Streitwert von 850,-- DM als angemessen angesehen hatte, so ergibt sich kein Anhalt dafür, daß dies offensichtlich unrichtig gewesen sei.
Das Landesarbeitsgericht hat gemeint, der Verweis müsse zu der weiterhin vorgesehenen Ordnungsstrafe der Geldbuße in Beziehung gesetzt werden. Die Geldbuße könne höchstens 87,80 DM betragen. Bei dem Kläger sei zunächst überhaupt nur ins Auge gefaßt gewesen, eine Geldbuße von 5,-- DM zu verhängen. Unter diesen Umständen sei es nicht zu rechtfertigen, den Streitwert wegen der weniger schwerwiegenden Ordnungsmaßnahme auf etwa 1/4 des Brutto- Monatslohns des Klägers festzusetzen. Mit diesen Erwägungen hat das Landesarbeitsgericht jedoch nicht dargetan, daß die vom Arbeitsgericht getroffene Wertfestsetzung unter keinem vernünftigen Gesichtspunkt zu rechtfertigen sei. Darüber hinaus fehlt es aber vor allem daran, daß nicht auf den ersten Blick erkennbar der nach Ansicht des Landesarbeitsgerichts zutreffende Streitwert auf 800,-- DM oder weniger festzusetzen war. Wenn das Landesarbeitsgericht meint, für die vorliegende Klage könne höchstens 1/6 des Brutto-Monatslohns als Streitwert festgelegt werden, so ist das nicht weniger eine Ermessensentscheidung als die vom Arbeitsgericht getroffene, die den Streitwert auf 1/4 des Monatslohns bestimmt hat.
II. Da das Landesarbeitsgericht nach alledem die Berufung zu Unrecht als unzulässig verworfen hat, kann sein Urteil keinen Bestand haben. Zugleich mußte der Senat die Sache an das Landesarbeitsgericht zurückverweisen, da ihm eine abschließende eigene Entscheidung nicht möglich ist.
Für die weitere Behandlung der Sache erscheinen folgende Hinweise angebracht: Das Berufungsgericht wird zunächst nicht ohne weiteres mit dem Arbeitsgericht und der Auffassung der Beklagten davon ausgehen können, daß die Beklagte eine Ordnungsmaßnahme im Sinne einer die kollektive Ordnung des Betriebes betreffenden Angelegenheit getroffen hat. Wesentlicher Umstand für den erteilten Verweis war, daß der Kläger seine Dienstvertragspflichten verletzt haben soll. Deshalb ist der kollektive Bezug fraglich, und es wird zu erörtern sein, ob der Verweis nicht als Abmahnung zu werten ist (vgl. zur Abgrenzung BAG Urteil vom 19. Juli 1983 - 1 AZR 307/81 - AP Nr. 5 zu § 87 BetrVG 1972 Betriebsbuße, zu II der Gründe m. w. N.). Hat die Beklagte den Kläger abmahnen wollen, so bedurfte es dabei nicht der Mitwirkung des Personalrats. Aber auch wenn eine Ordnungsmaßnahme in Rede steht, wird das Landesarbeitsgericht diese nicht ohne weiteres deshalb als rechtswidrig ansehen dürfen, weil der Personalrat nicht beteiligt worden ist. Insoweit kommt in Betracht, daß der Personalrat nach § 75 Abs. 3 Einleitungshalbsatz BPersVG deshalb nicht zu beteiligen war, weil in bezug auf die getroffene Maßnahme eine tarifliche Regelung vorliegt, die die Mitwirkung des Personalrats ausschließt (vgl. dazu BAG 39, 77 = AP Nr. 53 zu § 611 BGB Dienstordnungs-Angestellte). Als tarifliche Regelung kommt hier die Arbeitsordnung für die Arbeiter der Deutschen Bundesbahn in Betracht, die als Anlage 10 zu § 2 Abs. 5 Nr. 4 des Lohntarifvertrages vereinbart worden ist und nicht nur die möglichen Maßnahmen, sondern auch das Verfahren zu ihrem Erlaß gestaltet.
Wenn daher der von der Beklagten ausgesprochene Verweis nicht bereits wegen fehlender Mitwirkung des Personalrats unwirksam ist, müßte das Landesarbeitsgericht aufklären, ob der gegen den Kläger erhobene Vorwurf tatsächlich begründet war oder nicht.
Dr. Thomas Dr. Gehring Griebeling
Dr. Florack Pallas
Fundstellen
RdA 1986, 340 |
RzK, I 10l 22 (LT1-2) |
AP § 61 ArbGG 1979 (LT1-2), Nr 3 |
AR-Blattei, Arbeitsgerichtsbarkeit XB 1979 Entsch 32 (LT1-2) |
AR-Blattei, ES 160.10.2 (1979) Nr 32 (LT1-2) |
EzA § 64 ArbGG 1979, Nr 17 (LT1-2) |