Entscheidungsstichwort (Thema)
SanierungsTV. rückwirkender Eingriff
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Tarifvertragsparteien können die Regelungen des von ihnen abgeschlossenen Tarifvertrags während dessen Laufzeit rückwirkend ändern, was sich zu Lasten der Arbeitnehmer oder der Arbeitgeber auswirken kann. Dabei ist für die Beantwortung der Frage, ob ein Tarifvertrag rückwirkend in einen tariflichen Anspruch eingreifen kann, maßgeblich auf den Zeitpunkt der Anspruchsentstehung und nicht auf den ggf. später liegenden Zeitpunkt der Fälligkeit abzustellen. Bereits von diesem Zeitpunkt an hat der Arbeitnehmer nicht nur eine Anwartschaft, sondern einen Rechtsanspruch erworben, auf dessen Bestand er grundsätzlich vertrauen kann. Die Gestaltungsfreiheit der Tarifvertragsparteien zu einem rückwirkenden Eingriff in ihr Regelwerk ist durch den Grundsatz des Vertrauensschutzes für die Normunterworfenen begrenzt. Insoweit gelten die gleichen Regeln wie nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei der Rückwirkung von Gesetzen.
2. Die Grundlage für schützenswertes Vertrauen besteht nicht mehr, wenn und sobald die Normunterworfenen mit einer Änderung rechnen müssen. Dabei hat der Wegfall des Vertrauensschutzes nicht zur Voraussetzung, dass der einzelne Tarifunterworfene positive Kenntnis von den maßgeblichen Umständen hat. Entscheidend und ausreichend ist vielmehr die Kenntnis der betroffenen Kreise.
Normenkette
BetrVG § 77 Abs. 3
Verfahrensgang
LAG Baden-Württemberg (Urteil vom 24.06.2005; Aktenzeichen 16 Sa 129/04) |
ArbG Mannheim (Urteil vom 25.08.2004; Aktenzeichen 10 Ca 127/04) |
Tenor
1. Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg – Kammern Mannheim – vom 24. Juni 2005 – 16 Sa 129/04 – wird zurückgewiesen.
2. Die Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über die restliche Vergütung von 1.701,56 Euro brutto, die die Beklagte vom Januargehalt 2003 des Klägers einbehalten hat.
Der Kläger ist bei der Beklagten seit 1957 als Vorarbeiter beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis findet der mit der IG Metall abgeschlossene Haustarifvertrag vom 5. Juli 2002 Anwendung, nach dem dem Kläger für das Jahr 2002 ein Anspruch auf Weihnachtsgeld iHv. 1.701,56 Euro brutto zusteht. In der Betriebsversammlung am 22. Oktober 2002 ebenso wie mit dem Aushang vom 4. Dezember 2002 unterrichtete die Beklagte die Belegschaft darüber, dass es ihr auf Grund der angespannten Liquiditätslage nicht möglich sei, das Weihnachtsgeld zu den vereinbarten Zeitpunkten (November- und Dezembergehalt) auszubezahlen. Mit Schreiben vom 12. Dezember 2002 bekräftigte sie im Anschluss an die an demselben Tag stattgefundene Betriebsversammlung, “dass die Auszahlungssperre der diesjährigen Sonderzahlung/Weihnachtsgeld aufgrund der aktuellen Liquiditätssituation des Unternehmens zwingend entschieden werden musste”. Am 18. Dezember 2002 traf sie mit dem Betriebsrat die “Vereinbarung zum Weihnachtsgeld 2002” mit folgendem Inhalt:
“Nachdem aus Liquiditätsgründen das Weihnachtsgeld nicht wie ursprünglich vereinbart jeweils zur Hälfte mit dem November- und dem Dezemberentgelt 2002 ausbezahlt werden kann, wurde folgende Regelung mit der IG Metall Heidelberg (Herrn K…) und dem Betriebsrat (Herrn D…) vereinbart:
1. Das Weihnachtsgeld wird in voller Höhe mit dem Dezember-Entgelt ausbezahlt. Um dies zu ermöglichen, wird das Dezember-Entgelt jeweils um die Höhe des Weihnachtsgeldes reduziert.
2. Mit dem März-Lohn/Gehalt erfolgt dann die Auszahlung des einbehaltenen Lohnanteiles vom Dezember-Lohn/Gehalt (einschließlich marktüblicher Zinsen nach § 288 BGB).
3. Voraussetzung für oben genannte Regelung ist, dass die Klagen bezüglich des Weihnachtsgeldes, sofern bereits eingereicht, zurückgezogen werden.
Weiterhin wurde vereinbart, dass die am 13. Dezember 2002 aus Kapazitätsgründen zu einem Lieferanten verlagerte Prüfmaschine im Januar 2003 wieder zu S… zurück kommt.”
Die Abrechnung des Klägers für Dezember 2002 enthielt als Sonderzahlung einen Betrag von 1.701,56 Euro, den Tariflohn iHv. 2.598,35 Euro sowie ein Abzug vom Tariflohn Dezember iHv. 1.701,56 Euro. Die Abrechnung von Januar 2003 wies die – restliche – Vergütung von 1.701,56 Euro für Dezember, den Tariflohn von 2.598,35 Euro sowie einen Abzug vom Tariflohn Januar iHv. 1.701,56 Euro aus.
Am 13. Februar 2003 schloss die Beklagte mit der IG Metall einen Sanierungstarifvertrag, der ua. die folgenden Regelungen enthielt:
“1. Die nachfolgenden Regelungen treten rückwirkend zum 1. Februar 2003 in Kraft und gelten bis einschließlich 31. Dezember 2003.
…
3. Hinsichtlich der Entgelte und Ausbildungsvergütungen werden folgende Änderungen gegenüber dem Tarifvertrag v. 5.7.2002 über Entgelte und Ausbildungsvergütungen vorgenommen:
a) Die Entgelte und Ausbildungsvergütungen der Arbeitnehmer(Innen) werden jeweils um 5 % gegenüber der zum Zeitpunkt des Abschlusses dieses Tarifvertrages geltenden Höhe gekürzt.
b) Die zum 1.6.2003 vorgesehene Erhöhung der Entgelte und Ausbildungsvergütungen entfällt ersatzlos. Hiervon ausgenommen bleibt die Zahlung der ERA-Strukturkomponente, welche wie im Tarifvertrag v. 5.7.2003 vorgesehen zur Zahlung gelangt.
c) Die Restzahlung der Löhne/Gehälter, welche zum Zwecke einer vollen Auszahlung des Weihnachtsgeldes 2002 gekürzt und sodann in die Folgemonate übertragen worden war, entfällt ebenfalls ersatzlos.
…”
Ziff. 2 Sanierungstarifvertrag enthielt für den Zeitraum vom 1. Februar 2003 bis zum 31. Dezember 2003 einen auch im Übrigen beschränkten Ausschluss von betriebsbedingten Kündigungen und Ziff. 4 die Vereinbarung von Mehrarbeit iHv. zusätzlichen 10 % der jeweiligen regelmäßigen Arbeitszeit ohne Vergütung.
Mit seiner Klage fordert der Kläger die für den Monat Januar 2003 einbehaltene Vergütung, die er zuvor mit Schreiben vom 17. Juli 2003 geltend gemacht hat. Er hat die Auffassung vertreten, dass ihm die restliche Januarvergütung zustehe, weil der Einbehalt unter keinem Gesichtspunkt gerechtfertigt sei. Der Sanierungstarifvertrag habe die restliche Zahlung für Januar 2003 nicht einbeziehen können. Im Übrigen könne er sich auf Vertrauensschutz berufen.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 1.701,56 Euro brutto zuzüglich Zinsen iHv. 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz der Europäischen Zentralbank seit dem 1. Februar 2003 zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat geltend gemacht, dass der “eigentliche Streitgegenstand” nicht die einbehaltene Vergütung für Januar 2003, sondern das Weihnachtsgeld 2002 sei. Der Sanierungstarifvertrag habe diesen Anspruch des Klägers beseitigt, weil er auch die restliche Januarvergütung erfasse. Dem Kläger stehe auch kein Vertrauensschutz zu, weil ausgehend von der Vereinbarung vom 18. Dezember 2002 nur in eine künftige, noch nicht fällige Position eingegriffen worden sei. Im Übrigen habe der Kläger damit rechnen müssen, dass in Höhe des Weihnachtsgeldes eine Kürzung des Lohnanspruchs in den jeweiligen Folgemonaten realisiert werde.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihren Klageabweisungsanspruch weiter. Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Der restliche Vergütungsanspruch des Klägers für den Monat Januar 2003 iHv. 1.701,56 Euro ist entstanden und noch nicht erfüllt. Er ist auch nicht durch Ziff. 3c SanierungsTV entfallen, weil dem schützenswertes Vertrauen entgegensteht.
I. Das Landesarbeitsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass die restliche Januarvergütung von 1.701,56 Euro der Streitgegenstand ist. Das ergibt sich zwar nicht aus dem Klageantrag selbst, wird aber von dem Kläger in der Klagebegründung ausdrücklich klargestellt.
II. Dieser Anspruch ist auch noch nicht erfüllt.
1. Aus den von der Beklagten erteilten Abrechnungen für Dezember 2002 und Januar 2003, die als Schuldbestimmung gem. § 366 Abs. 1 BGB hinsichtlich der für diese Monate gezahlten Vergütungen zu verstehen sind, folgt, dass der entstandene Anspruch des Klägers auf die Januarvergütung in Höhe des Einbehalts von 1.701,56 Euro noch nicht erfüllt ist. Nach der Dezemberabrechnung hat die Beklagte den Kläger das – zT rückständige – Weihnachtsgeld iHv. 1.701,56 Euro gezahlt und von der Dezembervergütung einen Teilbetrag von 1.701,56 Euro einbehalten. Aus der Januarabrechnung ergibt sich ebenso eindeutig, dass die einbehaltene restliche Vergütung für Dezember gezahlt und dafür von der Januarvergütung ein Einbehalt in gleicher Höhe gemacht wurde. Eine Übertragung dieses Einbehalts auf die Februarvergütung ist nach dem unbestrittenen Vorbringen der Beklagten wegen des zwischenzeitlich abgeschlossenen SanierungsTV nicht erfolgt. Damit ist die Vergütung für Januar iHv. 1.701,56 Euro noch nicht gezahlt.
2. Dem steht die Vereinbarung vom 18. Dezember 2002 nicht entgegen. Danach sollte das Weihnachtsgeld in voller Höhe mit der Dezembervergütung ausgezahlt und dafür die Dezembervergütung entsprechend reduziert werden, was – wie dargelegt – auch tatsächlich geschehen ist. Die restliche einbehaltene Dezembervergütung – einschließlich marktüblicher Zinsen nach § 288 BGB – sollte mit der Märzvergütung ausgezahlt werden. Das ist von der Beklagten so nicht vollzogen worden, sondern sie hat im Hinblick auf das Insolvenzrisiko die restliche Dezembervergütung bereits im Januar gezahlt und dafür einen entsprechenden Einbehalt von der Januarvergütung vorgenommen. Die Wirksamkeit dieser von der Beklagten in der Januarabrechnung vorgenommenen Schuldbestimmung wird durch die Vereinbarung vom 18. Dezember 2002 nicht in Frage gestellt. Zum einen steht es der Beklagten als Schuldnerin frei, die nach der Vereinbarung an sich bis März 2003 gestundete Restzahlung der Dezembervergütung vorzeitig vorzunehmen. Zum anderen kann die Vereinbarung vom 18. Dezember 2002 entgegen der stillschweigenden Annahme der Vorinstanzen und der Parteien nicht als wirksam angesehen werden. Nach § 77 Abs. 3 BetrVG können Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein, es sei denn, der Tarifvertrag lässt den Abschluss ergänzender Betriebsvereinbarungen ausdrücklich zu. Die Fälligkeit der tariflichen Vergütungsansprüche wird jedenfalls üblicherweise durch Tarifvertrag geregelt. Somit ist es den Betriebsparteien verwehrt, durch Betriebsvereinbarung mit unmittelbarer Wirkung für die Arbeitnehmer abweichende Regelungen über die Fälligkeit der tariflichen Vergütung zu treffen (vgl. BAG 9. April 1991 – 1 AZR 406/90 – BAGE 67, 377 zur Regelung von Ausschlussfristen in einer Betriebsvereinbarung). Ob die Vereinbarung als Regelungsabrede angesehen werden kann und als solche wirksam ist, kann dahinstehen, weil einer Regelungsabrede keine unmittelbare Wirkung für die Arbeitsverhältnisse zukommt.
III. Der nicht erfüllte Vergütungsanspruch des Klägers für Januar 2003 iHv. 1.701,56 Euro ist durch Ziff. 3c SanierungsTV nicht weggefallen. Zwar ist der SanierungsTV auf das Arbeitsverhältnis anwendbar. Ziff. 3c SanierungsTV ist auch auf den Wegfall des restlichen Vergütungsanspruchs des Klägers für Januar 2003 gerichtet. Dem rückwirkenden Wegfall dieses bereits entstandenen Anspruchs steht aber der von Rechts wegen gebotene Vertrauensschutz entgegen.
1. Der SanierungsTV ist ebenso wie der Haustarifvertrag vom 5. Juli 2002 auf das Arbeitsverhältnis anwendbar. Davon gehen die Vorinstanzen ebenso wie die Parteien übereinstimmend aus. Nach diesem SanierungsTV soll der restliche Vergütungsanspruch des Klägers für Januar 2003 wegfallen. Das ergibt sich aus Ziff. 3c SanierungsTV, wonach die Restzahlung der Vergütung, welche zum Zwecke einer vollen Auszahlung des Weihnachtsgeldes 2002 gekürzt und sodann in die Folgemonate übertragen worden war, ersatzlos entfällt. Im Fall des Klägers soll also der von der Januarvergütung einbehaltene Betrag von 1.701,56 Euro, der zum Zeitpunkt des Abschlusses des SanierungsTV am 13. Februar 2003 offen stand, nicht mehr ausgezahlt werden, also der Anspruch hierauf erlöschen.
Diesem Regelungsverständnis steht nicht entgegen, dass nach Ziff. 1 SanierungsTV die “nachfolgenden Regelungen” rückwirkend zum 1. Februar 2003 in Kraft treten und bis einschließlich 31. Dezember 2003 gelten sollen. Diese Bestimmung betrifft vorrangig die Dauerregelungen in Ziff. 3a und b sowie 4 SanierungsTV (Kürzung der Entgelte um 5 %, Wegfall der Tariferhöhung ab 1. Juni 2003 und Mehrarbeit von 10 % ohne Vergütung). In Ziff. 2 SanierungsTV (Ausschluss von betriebsbedingten Kündigungen) ist die Frist vom 1. Februar 2003 bis 31. Dezember 2003 noch einmal aufgenommen worden. Für die den Wegfall der Restzahlung betreffende Einzelregelung in Ziff. 3c SanierungsTV passt diese Geltungsfrist nicht. Sie zwingt jedenfalls nicht zu einer Auslegung, nach der die Regelung in Ziff. 3c SanierungsTV gegenstandslos wäre, sondern zu dem Verständnis von Ziff. 3c iVm. Ziff. 1 SanierungsTV, dass der Anspruch auf die Restzahlung erst mit dem 1. Februar 2003 und nicht bereits früher wegfallen soll.
Dieser Auslegung widersprechen die zT unscharfen Formulierungen in Ziff. 3c SanierungsTV nicht. So spricht diese Bestimmung von der Übertragung “in die Folgemonate”, obwohl die Beklagte den Einbehalt von der Dezembervergütung nur auf die Januarvergütung und nicht mehr auf die Februarvergütung, also nur auf einen Folgemonat übertragen hat. Auch die Höhe der weggefallenen restlichen Vergütung ist in Ziff. 3c SanierungsTV nicht ausdrücklich bestimmt, ergibt sich aber aus der abstrakten Regelung, die auf die Kürzung “zum Zwecke einer vollen Auszahlung des Weihnachtsgeldes 2002” abstellt. Danach soll der Vergütungsanspruch in Höhe des im Dezember ausgezahlten Weihnachtsgeldes für die Monate wegfallen, auf die dieser Einbehalt in Höhe des Weihnachtsgeldes zuletzt übertragen worden ist.
2. Der Regelung in Ziff. 3c SanierungsTV über den rückwirkenden Wegfall der Vergütungsansprüche steht aber schützenswertes Vertrauen des Klägers in den Fortbestand seines Restlohnanspruchs für Januar 2003 entgegen; sie ist deshalb unwirksam.
a) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts können die Tarifvertragsparteien die Regelungen des von ihnen abgeschlossenen Tarifvertrags während dessen Laufzeit rückwirkend ändern, was sich zu Lasten der Arbeitnehmer oder der Arbeitgeber auswirken kann. Dabei ist für die Beantwortung der Frage, ob ein Tarifvertrag rückwirkend in einen tariflichen Anspruch eingreifen kann, maßgeblich auf den Zeitpunkt der Anspruchsentstehung und nicht auf den ggf. später liegenden Zeitpunkt der Fälligkeit abzustellen. Bereits von diesem Zeitpunkt an hat der Arbeitnehmer nicht nur eine Anwartschaft, sondern einen Rechtsanspruch erworben, auf dessen Bestand er grundsätzlich vertrauen kann. Die Gestaltungsfreiheit der Tarifvertragsparteien zu einem rückwirkenden Eingriff in ihr Regelwerk ist durch den Grundsatz des Vertrauensschutzes für die Normunterworfenen begrenzt. Insoweit gelten die gleichen Regeln wie nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei der Rückwirkung von Gesetzen (zB 19. Dezember 1961 – 2 BvL 6/59 – BVerfGE 13, 261, 271 f.). Ob und wann die Tarifunterworfenen mit einer rückwirkenden Regelung rechnen müssen, ist eine Frage des Einzelfalls (ua. BAG 22. Oktober 2003 – 10 AZR 152/03 – BAGE 108, 176, 182 f.; 17. Mai 2000 – 4 AZR 216/99 – BAGE 94, 349, 356 f.; 5. Juli 2006 – 4 AZR 381/05 – zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen; vgl. auch 27. Juni 2006 – 3 AZR 255/05 – NZA 2006, 1285, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen, zur Anpassung laufender Betriebsrenten durch Tarifvertrag). Dabei ist das Vertrauen in den Bestand des tariflichen Anspruchs unabhängig davon schutzwürdig, ob der Tarifvertrag für das Arbeitsverhältnis kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit der Parteien gilt oder ob dessen Anwendung vertraglich vereinbart ist.
Die Grundlage für schützenswertes Vertrauen besteht nicht mehr, wenn und sobald die Normunterworfenen mit einer Änderung rechnen müssen. Dabei hat der Wegfall des Vertrauensschutzes nicht zur Voraussetzung, dass der einzelne Tarifunterworfene positive Kenntnis von den maßgeblichen Umständen hat. Entscheidend und ausreichend ist vielmehr die Kenntnis der betroffenen Kreise (BAG 22. Oktober 2003 – 10 AZR 152/03 – Rn. 40, BAGE 108, 176, 184 mwN).
In der Regel müssen Arbeitnehmer nicht damit rechnen, dass in bereits entstandene Ansprüche eingegriffen wird, auch wenn sie noch nicht erfüllt oder noch nicht fällig sind. Etwas anderes gilt nur dann, wenn bereits vor der Entstehung des Anspruchs hinreichende Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Tarifvertragsparteien diesen Anspruch zu Ungunsten der Arbeitnehmer ändern werden. Deshalb kann der Vertrauensschutz nicht dadurch entfallen, dass nach der Entstehung, aber vor der Erfüllung des Anspruchs Informationen über die beabsichtigte Minderung dieses Anspruchs gegeben werden. Das einmal zu Recht entstandene und deshalb schützenswerte Vertrauen, dass entstandene Ansprüche erhalten bleiben, kann nicht nachträglich wieder entfallen. Für die Bejahung oder Verneinung schützenswerten Vertrauens und dessen Fortbestand kann es auch nicht darauf ankommen, ob ein entstandener Anspruch bereits erfüllt ist. Die Maßgeblichkeit dieses in aller Regel allein vom Arbeitgeber zu verantwortenden Umstandes würde den – aus welchen Gründen auch immer – säumigen Arbeitgeber begünstigen.
Es ist zwar richtig, dass es für die Schwere des Eingriffs in Vergütungsansprüche, die Grundlage für die finanziellen Dispositionen der betroffenen Beschäftigen sind, kaum einen Unterschied macht, ob das von den Tarifvertragsparteien für notwendig gehaltene Einsparungsvolumen allein durch – dann notwendigerweise stärkere – Einschnitte in zukünftige Ansprüche oder durch eine Kombination von Eingriffen in bereits entstandene – noch nicht erfüllte – und zukünftige Rechte mit insgesamt gleichem Volumen erreicht wird. Unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes können die Tarifvertragsparteien aber in bereits entstandene Ansprüche nur verschlechternd eingreifen, wenn bereits bei der Entstehung dieser Ansprüche schützenswertes Vertrauen in deren Fortbestand beseitigt war. Fehlt es daran, müssen die für notwendig erachteten Einsparungen durch die Verschlechterung zukünftig entstehender Ansprüche erreicht werden.
b) Nach diesen Grundsätzen ist durch Ziff. 3c SanierungsTV der restliche Vergütungsanspruch des Klägers für Januar 2003, der bei Abschluss des SanierungsTV bereits entstanden war, nicht weggefallen. Unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls steht dem rückwirkenden Wegfall des Anspruchs schützenswertes Vertrauen des Klägers entgegen.
aa) Dabei ist bei der Feststellung schützenswerten Vertrauens auch zu berücksichtigen, dass es aus der Sicht des Klägers wirtschaftlich um das Weihnachtsgeld als Sonderzahlung geht. Es war die zusätzliche Zahlung in Höhe des Weihnachtsgeldes, die zunächst auf Grund der Liquiditätslage gestundet werden sollte und die dann nach dem SanierungsTV ganz wegfallen sollte. Daran ändert die im Interesse des Insolvenzschutzes der Arbeitnehmer vorgenommene Übertragung des Einbehalts auf die Dezember- und dann auf die Januarvergütung nichts.
bb) Das schützenswerte Vertrauen auf den Fortbestand dieses Anspruchs ist durch die wiederholten Hinweise auf die Liquiditätsprobleme in der Betriebsversammlung vom 22. Oktober 2002, im Aushang vom 4. Dezember 2002, in der Betriebsversammlung und im Schreiben vom 12. Dezember 2002 sowie durch die Vereinbarung vom 18. Dezember 2002 nicht entfallen. Die bloße Kenntnis von wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Unternehmens kann das Vertrauen in den Bestand der bis Dezember 2002 erworbenen Rechte nicht entscheidend erschüttern, weil solche Schwierigkeiten auch durch andere Maßnahmen als durch rückwirkende Verschlechterungen der tariflichen Ansprüche behoben werden können. Gegen den Verlust des Vertrauensschutzes spricht auch, dass die Beklagte in dem Aushang vom 4. Dezember 2002 nicht von geplanten Einschnitten in die tariflichen Rechte, sondern von Bemühungen um eine Zwischenfinanzierung gesprochen hat und Informationen über den geplanten Zahlungstermin, nicht etwa darüber, ob es überhaupt zur Auszahlung kommt, nach Klärung der Situation angekündigt hat. Auch der “Vereinbarung zum Weihnachtsgeld 2002” vom 18. Dezember 2002 konnten die Arbeitnehmer keinen Hinweis auf die beabsichtigte Kürzung von im Dezember 2002 und dann im Januar 2003 entstehenden Ansprüche entnehmen. Mit dieser Vereinbarung ist versucht worden, durch Stundungsregelungen eine Lösung der Liquidationsprobleme zu erleichtern. Ein Hinweis auf beabsichtigte Verschlechterungen der tariflichen Ansprüche ergibt sich daraus nicht. Die Vereinbarung enthält keine Ankündigung des beabsichtigten Wegfalls der entsprechenden Ansprüche, sondern nur eine Vereinbarung über den – späteren – Zahlungstermin. Im Übrigen wird von den Beschäftigten die Rücknahme von Klagen wegen des Weihnachtsgeldes als Voraussetzung für die Regelung verlangt, also ein eigener Beitrag für die Realisierung des Finanzierungskonzepts, mit dessen Hilfe auch die – spätere – Auszahlung der einbehaltenen Beträge ermöglicht werden sollte. Der Kläger konnte und musste auf Grund dieser Vorgänge nicht damit rechnen, dass in den Weihnachtsgeldanspruch und die an seine Stelle tretenden Ansprüche eingegriffen wird. Jedenfalls bis Ende Januar 2003 ging es für den Kläger stets nur um eine – in besonderer Weise durchgeführte – Stundung, nicht um den Verlust der einbehaltenen Beträge.
cc) Durch die zwischen den Parteien umstrittene Information auf der Betriebsversammlung Ende Januar 2003 konnte der Vertrauensschutz für den geltend gemachten Anspruch nicht mehr rückwirkend entfallen. Das gilt ohne weiteres, wenn man darauf abstellt, dass es in der Sache um den Anspruch auf Zahlung des Weihnachtsgeldes geht, der bereits im Jahre 2002 entstanden ist. Das gilt aber auch dann, wenn entsprechend der formalen Betrachtungsweise auf das Vertrauen in den Bestand der Januarvergütung abgestellt wird. Denn zum Zeitpunkt der Betriebsversammlung Ende Januar 2003, dessen konkretes Datum vom Landesarbeitsgericht nicht festgestellt und von den Parteien nicht benannt worden ist, waren die Ansprüche auf die Januarvergütung im Wesentlichen schon entstanden. Insoweit ist bei einer regelmäßigen monatlichen Zahlung eine Bestimmung des konkreten Datums, an dem der Vertrauensschutz weggefallen ist, nicht notwendig. Vielmehr ist es sachgerecht, einen späteren rückwirkenden Eingriff in regelmäßige monatliche Vergütungsbestandteile nur zuzulassen, wenn vor dem Beginn des Monats hinreichende Anhaltspunkte für die Möglichkeit einer entsprechenden Änderung vorliegen. Durch Informationen auf der Betriebsversammlung Ende Januar 2003 konnte deshalb allenfalls das Vertrauen darauf entfallen, dass tarifvertraglich nicht in Vergütungsansprüche für die Zeit ab Februar 2003 eingegriffen werden würde.
IV. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 ZPO.
Unterschriften
Bepler, Creutzfeldt, Wolter, Vorderwülbecke, Rupprecht
Fundstellen