Entscheidungsstichwort (Thema)
Verzicht auf Versorgung wegen geplanter Betriebsveräußerung
Leitsatz (redaktionell)
Hinweise des Senats:
Vergleiche Urteil vom 12. Mai 1992 – 3 AZR 247/91 –, zur Veröffentlichung vorgesehen
Normenkette
BetrAVG § 1 Betriebsveräußerung, § 4 Abs. 1 S. 2, § 7 Abs. 1 S. 3 Nr. 5, S. 4, § 17 Abs. 3 S. 3; BGB §§ 134, 613a
Verfahrensgang
LAG Hamm (Urteil vom 02.04.1991; Aktenzeichen 6 Sa 1199/90) |
ArbG Bochum (Urteil vom 10.07.1990; Aktenzeichen 2 Ca 188/90) |
Tenor
1. Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamm vom 2. April 1991 – 6 Sa 1199/90 – wird zurückgewiesen.
2. Die Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen, einschließlich der Kosten des Streithelfers.
3. Die Kostenentscheidung des Berufungsgerichts wird dahingehend ergänzt, daß von den durch die Streithilfe verursachten Kosten der ersten und zweiten Instanz die Beklagte 9/10 und der Streithelfer 1/10 zu tragen haben.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten in der Revisionsinstanz nur noch darüber, ob die Beklagte für Leistungen der betrieblichen Altersversorgung einzustehen hat, die der Kläger bei der Rechtsvorgängerin der Beklagten erdient hat.
Der Kläger, geboren am 24. März 1929, war seit 1963 bei der A GmbH beschäftigt. Die A GmbH hatte ihren Mitarbeitern Versorgungszusagen in verschiedenen Durchführungsformen erteilt. Sie hatte zugunsten ihrer Arbeitnehmer eine Gruppenlebensversicherung abgeschlossen, für die eine jährliche Prämie von 312,– DM zu entrichten war. Ferner bestand bei der A GmbH eine Unterstützungskasse, nach deren Leistungsplan monatliche Betriebsrenten von 75,– DM bis 254,– DM zu zahlen waren.
Über das Vermögen der A GmbH wurde im Jahre 1979 das Konkursverfahren eröffnet. Der Kläger wurde zum 1. Juli 1979 von der H KG übernommen, bei der er seither als Angestellter im Archiv tätig war. Die H KG übernahm die bestehenden Versorgungsanwartschaften. Die Unterstützungskasse wurde auf die KG übertragen.
Seit 1985 geriet die H KG zunehmend in wirtschaftliche Schwierigkeiten. Sie konnte im März 1986 die Löhne und Gehälter ihrer 231 Mitarbeiter nicht mehr zahlen. Anfang April 1986 stellte sie ihren Geschäftsbetrieb ein.
In dieser Situation schloß die KG mit ihrem Betriebsrat am 4. April 1986 eine Betriebsvereinbarung, in der eingangs die wirtschaftliche Lage des Unternehmens dargestellt wurde und in der es heißt:
„…
Nach einem ersten Überprüfen der Vermögens- und Schuldposten sowie Überprüfung von Absonderungs- und Aussonderungsrechten … ist nicht auszuschließen, daß ein Konkursverfahren gar nicht eröffnet würde, weil keine ausreichende Masse zur Verfügung stehen könnte, um überhaupt die Kosten des Konkursverfahrens zu decken.
…
Die Unternehmensleitung hat in langwierigen, zähen Verhandlungen versucht, Lösungen zu finden, die wenigstens die Arbeitsplätze im Unternehmen erhalten helfen. Alle Beteiligten sind sich darüber einig, daß die Sicherung der Arbeitsplätze nur unter erheblichen Einbußen aller Beteiligten möglich sein dürfte…”
Unter Nr. 5 der Betriebsvereinbarung wurde vereinbart:
„Die Geschäftsführung versucht, sicherzustellen, daß allen Mitarbeitern ein neuer Arbeitsvertrag durch ein anderes Handelsunternehmen angeboten wird, welches am gleichen Standort ein Handelsgeschäft betreiben möchte. Dieser Arbeitsvertrag enthält folgende Eckdaten:
…
h) Mit Annahme des Angebots auf Abschluß des neuen Dienstvertrags verzichtet jeder Mitarbeiter unwiderruflich auf alle Ansprüche gegenüber der H KG, sei es aus dem Arbeitsverhältnis, aus Versorgungszusagen und Versorgungsvereinbarungen aller Art, sei es aus Gewährung von Darlehen. Diese Verzichtserklärung umfaßt ausdrücklich auch diejenigen Ansprüche, die aufgrund der gesetzlichen Regelungen schon unverfallbar sind.”
Am 7. April 1986 unterzeichnete der Kläger eine Erklärung des Inhalts, daß er von der Betriebsvereinbarung Kenntnis genommen habe und bereit sei, zu den unter Nr. 5 genannten Bedingungen einen Arbeitsvertrag mit einem anderen Handelsunternehmen abzuschließen. Am 6. Mai 1986 unterzeichnete der Kläger eine weitere Erklärung, in der es heißt:
- „Ich verzichte gegenüber der Firma H KG auf alle Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis, aus Versorgungszusagen und Versorgungsvereinbarungen aller Art, sowie aus der Gewährung von Darlehen oder Ansprüchen aus meiner bestehenden stillen Beteiligung.
- Diese Verzichtserklärung umfaßt ausdrücklich auch diejenigen Ansprüche, die aufgrund der gesetzlichen Regelungen schon unverfallbar sind.
- Die vorstehenden Erklärungen sind als Angebot zum Abschluß eines Verzichtsvertrages zu sehen, welches unter der aufschiebenden Bedingung abgegeben wird, daß mein heutiges Angebot auf Abschluß eines neuen Arbeitsvertrages mit der Firma M U GmbH, G, von dieser Gesellschaft angenommen wird.”
Die H KG nahm das Angebot auf Abschluß eines Erlaßvertrags an.
Nach übereinstimmender Darstellung der Parteien übernahm die Beklagte den Betrieb der H KG am 1. Juni 1986. Die Mitarbeiter erhielten neue Anstellungsverträge. Darin wurden Leistungen der betrieblichen Altersversorgung nicht vorgesehen.
Über das Vermögen der H KG wurde am 29. April 1987 das Konkursverfahren eröffnet.
Der Kläger will seinen gegenüber der H KG erklärten Verzicht auf seine Versorgungsansprüche nicht mehr gelten lassen. Er hat die Auffassung vertreten, seine Erklärungen seien unwirksam.
Der Kläger hat beantragt
festzustellen, daß seine Ansprüche aus der betrieblichen Altersversorgung des Veräußerungsbetriebes, der Möbel H KG sich gegen den Erwerbsbetrieb, die Beklagte, richten.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, der Kläger habe auf seine Versorgungsanwartschaft vor dem Betriebsübergang wirksam verzichtet.
Der Kläger hat dem Pensions-Sicherungs-Verein den Streit verkündet. Dieser ist dem Rechtsstreit auf der Seite des Klägers beigetreten.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat festgestellt, daß der Anspruch des Klägers aus der zu seinen Gunsten abgeschlossenen Lebensversicherung sowie sein Anspruch auf Leistungen im Rentenfall für die Zeit bis zum 1. Juni 1986 auf die Beklagte übergegangen sind. Im übrigen hat es die Klage abgewiesen. Mit der Revision verfolgt die Beklagte ihren ursprünglichen Klageabweisungsantrag weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Der Vertrag über den Erlaß der Versorgungsanwartschaften, den der Kläger mit der H KG geschlossen hat, ist nichtig. Die Beklagte hat als Betriebserwerber die Verpflichtungen aus den Versorgungszusagen zu erfüllen (§ 613 a Abs. 1 Satz 1 BGB), soweit die Klage nicht rechtskräftig abgewiesen wurde.
I. Der Senat kann offen lassen, ob der Erlaßvertrag gegen § 3 Abs. 1 Satz 1 BetrAVG verstößt.
Das Berufungsgericht hat angenommen, der vom Kläger mit der H KG geschlossene Erlaßvertrag sei gemäß § 17 Abs. 3 Satz 3 BetrAVG, § 134 BGB nichtig, weil er gegen das Abfindungs- und Verzichtsverbot des § 3 Abs. 1 Satz 1 BetrAVG verstoße. Die Rechtsprechung des Senats, nach der ein im Zusammenhang mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses vereinbarter Erlaß einer seit mehr als zehn Jahren bestehenden Versorgungsanwartschaft gegen § 3 Abs. 1 Satz 1 BetrAVG verstoße (BAGE 56, 148 = AP Nr. 13 zu § 17 BetrAVG und Urteil vom 14. August 1990 – 3 AZR 301/89 – NZA 1991, 174), gelte auch dann, wenn der Erlaß im Zusammenhang mit einer Betriebsveräußerung stehe.
Die Revision hat gegen diese Auffassung Bedenken erhoben; anders als in dem vom Senat entschiedenen Rechtsstreit werde das Arbeitsverhältnis beim rechtsgeschäftlichen Betriebsübergang gerade nicht beendet, sondern kraft Gesetzes mit dem Betriebserwerber fortgesetzt, so daß ein Verstoß gegen § 3 BetrAVG ausscheide. Es kann offen bleiben, ob dies zutrifft. Das Urteil des Berufungsgerichts erweist sich aus einem anderen Grunde als richtig.
II. Der Erlaß von Versorgungsanwartschaften im Zusammenhang mit einem Betriebsinhaberwechsel verstößt gegen den Schutzzweck des § 613 a Abs. 1 Satz 1 BGB und ist aus diesem Grunde nichtig.
1. Die Beklagte ist nach § 613 a Abs. 1 Satz 1 BGB Schuldnerin der Versorgungsansprüche geworden, die der Kläger bei der H KG erworben hat. Gemäß § 613 a Abs. 1 Satz 1 BGB tritt der Erwerber eines Betriebs in die Rechte und Pflichten aus den im Zeitpunkt des Übergangs bestehenden Arbeitsverhältnissen ein. Unstreitig hat ein Betriebsübergang von der H. KG auf die Beklagte stattgefunden. Das Arbeitsverhältnis des Klägers mit der H KG wurde mit der Beklagten fortgesetzt.
Zu den Rechten und Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis, die im Falle der Betriebsveräußerung auf den Erwerber übergehen, zählen auch vom Veräußerer erteilte Versorgungszusagen und die daraus erwachsenen – verfallbaren und unverfallbaren – Anwartschaften (ständige Rechtsprechung des Senats seit Urteil vom 24. März 1977, BAGE 29, 94 = AP Nr. 6 zu § 613 a BGB; zuletzt Urteil vom 23. Juli 1991 – 3 AZR 366/90 – zur Veröffentlichung vorgesehen, m.w.N.).
Der Einwand der Beklagten, sie sei deshalb nicht in bestehende Versorgungsrechte der übernommenen Arbeitnehmer der H KG eingetreten, weil diese vor dem Betriebsübergang gegenüber dem Betriebsveräußerer auf ihre Versorgungsanwartschaften verzichtet hätten, ist nicht begründet. Die Erlaßverträge der Arbeitnehmer mit der H KG sind nichtig. Die den Arbeitnehmern erteilten Versorgungszusagen bestanden zur Zeit des Betriebsübergangs fort. Der Kläger und die H KG konnten die Rechtswirkungen des § 613 a Abs. 1 Satz 1 BGB nicht ausschließen, indem sie im Hinblick auf eine in Aussicht genommene Übernahme des Betriebs durch einen neuen Inhaber die bestehenden Versorgungsregelungen beseitigten:
Durch § 613 a Abs. 1 Satz 1 BGB soll erreicht werden, daß das Arbeitsverhältnis zu den bisherigen Bedingungen zwischen dem Arbeitnehmer und dem Betriebserwerber fortbesteht. Die Vorschrift enthält zum Schutz der betroffenen Arbeitnehmer zwingendes Recht (BAGE 50, 62 = AP Nr. 4 zu § 1 BetrAVG Betriebsveräußerung; BAGE 27, 291 = AP Nr. 2 zu § 613 a BGB). Daraus folgt unmittelbar, daß der Eintritt des Erwerbers in die Rechte und Pflichten aus den betroffenen Arbeitsverhältnissen nicht durch Vertrag zwischen dem Betriebsveräußerer und dem Betriebserwerber ausgeschlossen werden kann (BAGE 50, 62, 72 = AP Nr. 4 zu § 1 BetrAVG Betriebsveräußerung, zu B III 3 a der Gründe). Aus dem zugunsten der Arbeitnehmer zwingenden Schutzzweck des § 613 a Abs. 1 Satz 1 BGB folgt aber auch, daß die Regelungsbefugnis des Betriebsveräußerers und der betroffenen Arbeitnehmer beschränkt ist. Es macht, gemessen an dem Schutzzweck der Norm, keinen Unterschied, ob die bisher geltenden Arbeitsbedingungen aufgrund einer Abrede zwischen Veräußerer und Erwerber des Betriebs negativ verändert werden oder ob der Veräußerer mit seinen Arbeitnehmern Regelungen trifft, die dem Erwerber einen von den sog. Altlasten freien Betriebserwerb erlauben sollen. § 613 a BGB will auf jeden Fall, ungeachtet der im Einzelfall gewählten Regelungsmodalität, verhindern, daß die Betriebsveräußerung zum Anlaß eines Sozialabbaus der Belegschaft des Veräußererbetriebs genommen wird. Der Senat hat daher selbst Eigenkündigungen der Arbeitnehmer und Aufhebungsverträge im Hinblick auf eine geplante Betriebsveräußerung als Umgehung des § 613 a Abs. 4 Satz 1 BGB und, soweit unverfallbare Versorgungsanwartschaften betroffen waren, als Umgehung des § 4 Abs. 1 Satz 2 BetrAVG angesehen und solche Vereinbarungen als unwirksam beurteilt (BAGE 55, 229 = AP Nr. 5 zu § 1 BetrAVG Betriebsveräußerung).
2. Auch durch Vereinbarungen zwischen der Beklagten als Betriebserwerberin und den Arbeitnehmern konnten die erdienten Anwartschaften auf betriebliche Altersversorgung nicht beseitigt werden. Da § 613 a Abs. 1 Satz 1 BGB „die Rechte und Pflichten aus den im Zeitpunkt des Übergangs bestehenden Arbeitsverhältnissen” schützt, und nicht nur ein Kündigungsverbot wegen des Betriebsübergangs vorsieht (§ 613 a Abs. 4 BGB), ist es mit dem Schutzzweck des § 613 a Abs. 1 Satz 1 BGB nicht vereinbar, den Arbeitnehmern allein aus Gründen des Betriebsübergangs einen Verzicht auf ihre betriebliche Altersversorgung zuzumuten (BAGE 50, 62, 74 = AP Nr. 4 zu § 1 BetrAVG Betriebsveräußerung, zu B III 3 c der Gründe). Insoweit wird zwar die Vertragsfreiheit eingeschränkt, jedoch sind solche Einschränkungen durch zwingendes Recht im Arbeitsrecht nicht ungewöhnlich, weil nur so der erforderliche Schutz der Arbeitnehmer erreicht werden kann. Im Zusammenhang mit einem Betriebsübergang sind die Arbeitnehmer in besonderem Maße auf diesen Schutz angewiesen. Sie werden, wie auch der vorliegende Rechtsstreit zeigt, vor die Alternative gestellt, den Arbeitsplatz zu verlieren oder schlechtere Arbeitsbedingungen hinzunehmen. Erlaßverträge der vorliegenden Art kommen deshalb typischerweise unter Druck zustande. Sie können nicht ohne weitere Prüfung auf ihre Berechtigung hingenommen werden.
Das Bundesarbeitsgericht hat zwar anerkannt, daß die Arbeitnehmer unter engen Voraussetzungen mit dem Betriebserwerber Ar
beitsverträge mit ungünstigeren Bedingungen abschließen können, sofern die Einschränkungen durch sachliche Gründe gerechtfertigt sind (BAG Urteil vom 18. August 1976 – 5 AZR 95/75 – AP Nr. 4 zu § 613 a BGB; BAG Urteil vom 26. Januar 1977 – 5 AZR 302/75 – AP Nr. 5 zu § 613 a BGB; BAGE 32, 326 = AP Nr. 18 zu § 613 a BGB; BAGE 50, 62 = AP Nr. 4 zu § 1 BetrAVG Betriebsveräußerung). Sachliche Gründe, die im Unternehmen der Beklagten den entschädigungslosen Verlust der schon beim Betriebsveräußerer erworbenen Versorgungsrechte der Arbeitnehmer gerechtfertigt hätten, sind jedoch nicht ersichtlich und auch von der Beklagten nicht geltend gemacht worden.
3. Die Betriebsvereinbarung vom 4. April 1986 sowie die Erklärungen der betroffenen Arbeitnehmer vom 7. April und 6. Mai 1986 lassen keinen Zweifel daran aufkommen, daß die bestehenden Versorgungsrechte allein mit Rücksicht auf den geplanten Betriebsinhaberwechsel beseitigt werden sollten. Der Verzicht stand unter der Bedingung des Abschlusses neuer Arbeitsverträge mit einem Betriebserwerber. Die Ausführungen des Berufungsgerichts hierzu verdienen Zustimmung. Die Versorgungsverbindlichkeiten der H KG sollten als Altlast abgestoßen werden, um die Chancen eines Betriebserwerbs durch ein wirtschaftlich gesundes Unternehmen im Interesse der Erhaltung der Arbeitsplätze zu verbessern. Wäre es der H KG darum gegangen, der eigenen wirtschaftlichen Krise Herr zu werden und, wenn möglich, das Unternehmen fortzuführen, dann hätte nichts nähergelegen, als den Widerruf der Versorgungszusagen wegen wirtschaftlicher Notlage zu erklären und den Pensions-Sicherungs-Verein auf Feststellung der Pflicht zur Übernahme der unverfallbaren Anwartschaften zu verklagen (§ 7 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5, Satz 4 BetrAVG).
Unterschriften
Dr. Heither, Griebeling, Dr. Wittek, Dr. Jesse, Arntzen
Fundstellen