Entscheidungsstichwort (Thema)
Abbruchgewerbe. Allgemeinverbindlichkeit 2005. Auslegung einer Allgemeinverbindlicherklärung. Redaktionsversehen. Antrag auf Allgemeinverbindlicherklärung
Orientierungssatz
1. Eine Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen ist wie ein Gesetz auszulegen.
2. Nach der AVE 2006 vom 24. Februar 2006 erstreckte sich die Allgemeinverbindlichkeit des VTV im Jahr 2005 nicht auf Betriebe des Abbruchgewerbes. Auf eine unmittelbare oder mittelbare Mitgliedschaft im Deutschen Abbruchverband e.V. kam es insoweit nicht an.
Normenkette
Bekanntmachung über die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifvertragswerken für das Baugewerbe vom 24. Februar 2006 (AVE 2006); Tarifvertrag über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV) vom 20. Dezember 1999 i.d.F. vom 14. Dezember 2004, § 18
Verfahrensgang
LAG Berlin-Brandenburg (Urteil vom 30.06.2009; Aktenzeichen 12 Sa 409/08) |
ArbG Berlin (Urteil vom 17.01.2008; Aktenzeichen 70 Ca 73387/06) |
Tenor
1. Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 30. Juni 2009 – 11 Sa 408/08 verbunden mit 12 Sa 409/08 – aufgehoben, soweit es die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 17. Januar 2008 – 70 Ca 73387/06 – zurückgewiesen hat und soweit es die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 17. Januar 2008 – 70 Ca 62800/06 – iHv. 10.713,45 Euro zurückgewiesen hat.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Rz. 1
Die Parteien streiten in der Revision noch darüber, ob die Beklagte für die Monate Februar bis Dezember 2005 Beiträge nach dem Tarifvertrag über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV) an die Klägerin zu zahlen hat.
Rz. 2
Die Klägerin ist als gemeinsame Einrichtung für die Tarifvertragsparteien des Baugewerbes Einzugsstelle für die Beiträge zu den Sozialkassen des Baugewerbes. Die Beklagte ist seit dem 1. Dezember 2006 Mitglied im Fachverband Betonbohren und -sägen Deutschland e. V.
Rz. 3
Die Klägerin hat unter Beweisantritt behauptet, die im Betrieb der Beklagten beschäftigten Arbeitnehmer hätten arbeitszeitlich zu mehr als 50 % der jeweiligen persönlichen Gesamtarbeitszeit, die auch mehr als 50 % der gesamten betrieblichen Arbeitszeit ausgemacht habe, Durchbrucharbeiten in Bauwerken, dh. Betonbohr- und -sägearbeiten zum Zwecke der Schaffung von Öffnungen für Türen und Fenster sowie von Wegen für Versorgungsleitungen, verrichtet.
Rz. 4
Hilfsweise hat sich die Klägerin die Behauptung der Beklagten zu eigen gemacht, sie habe überwiegend Abbrucharbeiten durchgeführt. Auch dann bestehe der Anspruch, weil die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifvertragswerken für das Baugewerbe vom 24. Februar 2006 auch Betriebe des Abbruchgewerbes erfasst habe. Davon seien im Jahr 2005 nur unmittelbare oder mittelbare Mitglieder im Deutschen Abbruchverband e.V. ausgenommen gewesen.
Rz. 5
Die Klägerin hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an sie 14.069,68 Euro zu zahlen.
Rz. 6
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen, und die Auffassung vertreten, Betriebe des Abbruchgewerbes seien im Jahr 2005 insgesamt von der Allgemeinverbindlichkeit des VTV ausgenommen worden.
Rz. 7
Das Landesarbeitsgericht hat die Klage ohne Beweisaufnahme mit der Begründung abgewiesen, die Allgemeinverbindlicherklärung vom 24. Februar 2006 habe Betriebe des Abbruchgewerbes wie den der Beklagten im Jahr 2005 nicht erfasst. Mit der zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Klageziel weiter.
Entscheidungsgründe
Rz. 8
Die Revision ist begründet. Mit der Begründung des Landesarbeitsgerichts kann die Klage nicht abgewiesen werden. Eine eigene Sachentscheidung ist dem Senat nicht möglich. Der Rechtsstreit ist deshalb zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen.
Rz. 9
I. Ein Anspruch der Klägerin nach § 18 Abs. 1 des VTV vom 20. Dezember 1999 idF des Änderungstarifvertrags vom 14. Dezember 2004 auf Zahlung der Sozialkassenbeiträge für das Jahr 2005 besteht, wie das Landesarbeitsgericht allerdings zutreffend erkannt hat, nicht auf der Grundlage des von der Klägerin sich hilfsweise zu eigen gemachten Vortrags der Beklagten, sie habe im Jahr 2005 arbeitszeitlich überwiegend Abbrucharbeiten verrichtet. Abbrucharbeiten fallen nach § 1 Abs. 2 Abschn. V Nr. 29 VTV zwar unter den betrieblichen Geltungsbereich des VTV. Die Beklagte war – die überwiegende Erbringung von Abbrucharbeiten unterstellt – im Jahr 2005 jedoch weder kraft Mitgliedschaft in einer Tarifvertragspartei gem. §§ 3, 4 TVG noch kraft Allgemeinverbindlichkeit nach § 5 Abs. 4 TVG an den VTV gebunden.
Rz. 10
1. Der VTV in der Fassung des Änderungstarifvertrags vom 14. Dezember 2004 ist durch die Allgemeinverbindlicherklärung vom 24. Februar 2006 mit Wirkung zum 1. Januar 2005 für allgemeinverbindlich erklärt worden, so dass nach § 5 Abs. 4 TVG seine Rechtsnormen bisher nicht tarifgebundene Arbeitgeber und Arbeitnehmer erfassten.
Rz. 11
2. Nach Abschn. III der Einschränkungen erstreckte sich die Allgemeinverbindlichkeit im Jahr 2005 jedoch insgesamt nicht auf Betriebe des Abbruchgewerbes. Dies ergibt die Auslegung der Allgemeinverbindlicherklärung vom 24. Februar 2006.
Rz. 12
a) Eine Allgemeinverbindlicherklärung ist wie ein Gesetz auszulegen. Zwar handelt es sich weder um ein förmliches Gesetz noch um eine Rechtsverordnung. Eine Allgemeinverbindlicherklärung ist ein Rechtssetzungsakt eigener Art zwischen autonomer Regelung und staatlicher Rechtssetzung, der seine eigenständige Grundlage in Art. 9 Abs. 3 GG findet (BVerfG 24. Mai 1977 – 2 BvL 11/74 – BVerfGE 44, 322; BAG 19. März 1975 – 4 AZR 270/74 – BAGE 27, 78). Sie dehnt die Verbindlichkeit von Tarifverträgen auf Betriebe und Personen aus, die sonst nicht von den Normen eines Tarifvertrags erfasst würden. Die Allgemeinverbindlicherklärung ist deshalb Normsetzung (BVerfG 24. Mai 1977 – 2 BvL 11/74 – aaO) und aus diesem Grund wie ein Gesetz auszulegen.
Rz. 13
b) Nach dem Wortlaut von Abschn. III Nr. 2 des Ersten Teils der Allgemeinverbindlicherklärung vom 24. Februar 2006 erstreckt sich diese nicht auf Betriebe und selbständige Betriebsabteilungen mit Sitz im Inland, die ganz oder teilweise Bauwerke, Bauwerksteile oder einzelne Elemente aus Mauerwerk, Beton, Stahlbeton, Eisen, Stahl oder sonstigen Baustoffen, technische Anlagen abbrechen, demontieren, sprengen, Beton schneiden, sägen, bohren, pressen, soweit sie unmittelbar oder mittelbar Mitglied im Deutschen Abbruchverband e.V. sind. Danach wäre die Beklagte als Betrieb des Abbruchgewerbes von der Allgemeinverbindlicherklärung im Jahr 2005 erfasst worden, weil sie erst mit Wirkung zum 1. Dezember 2006 eine Verbandsmitgliedschaft begründet hat.
Rz. 14
c) Dem Wortlaut nach differenziert die Einschränkung nicht zwischen dem nach Buchstabe e) mit Wirkung zum 1. Januar 2005 für allgemeinverbindlich erklärten VTV in der Fassung vom 14. Dezember 2004 und dem nach Buchstabe f) mit Wirkung zum 1. Januar 2006 für allgemeinverbindlich erklärten VTV in der Fassung vom 15. Dezember 2005.
Rz. 15
d) Daraus folgt jedoch nicht, dass der VTV in der Fassung vom 14. Dezember 2004 mit diesen Einschränkungen für allgemeinverbindlich erklärt wurde. Insoweit liegt ein redaktionelles Versehen des Normgebers vor. Wie der Gesamtzusammenhang der Regelung zeigt, sollten beide Tarifverträge mit den jeweils beantragten Einschränkungen für allgemeinverbindlich erklärt werden. Dies verdeutlicht die Überschrift des Ersten Teils der Allgemeinverbindlicherklärung vom 24. Februar 2006, indem es dort heißt: “Einschränkungen der Allgemeinverbindlicherklärung auf Antrag”.
Rz. 16
aa) Beantragt war mit Datum vom 21. Dezember 2004 (BAnz Nr. 247 S. 24681) die Allgemeinverbindlicherklärung des VTV vom 20. Dezember 1999 in der Fassung des Änderungstarifvertrags vom 14. Dezember 2004 mit Wirkung vom 1. Januar 2005. Beantragt war weiter, die Allgemeinverbindlichkeit dieses Tarifvertrags gemäß dem ersten Teil der Maßgaben in der Bekanntmachung über die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifvertragswerken für das Baugewerbe vom 17. Januar 2000 (BAnz Nr. 20 S. 1385) einzuschränken. Nach der Einschränkung in Abschn. III 5 dieser Allgemeinverbindlicherklärung waren Spreng-, Abbruch und Enttrümmerungsarbeiten ausführende Betriebe und selbständige Betriebsabteilungen von der Allgemeinverbindlicherklärung ausgenommen, soweit ihre Leistungen nicht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit anderen in Betrieben oder in selbständigen Betriebsabteilungen in erheblichem Umfang anfallenden baulichen Leistungen stehen. Nach dem Antrag auf Allgemeinverbindlicherklärung des VTV in der Fassung vom 14. Dezember 2004 sollten Abbruchbetriebe somit insgesamt von der Allgemeinverbindlichkeit ausgenommen werden, ohne dass es auf die unmittelbare oder mittelbare Mitgliedschaft im Verband des Deutschen Abbruchgewerbes e.V. im Jahre 2005 ankam.
Rz. 17
bb) Erst der Antrag vom 21. Dezember 2005 auf Allgemeinverbindlicherklärung des VTV in der Fassung des Änderungstarifvertrags vom 15. Dezember 2005 mit Wirkung zum 1. Januar 2006 (BAnz Nr. 248 S. 17325) enthält in seinem Abschn. III 2 die Einschränkung, die Allgemeinverbindlichkeit nicht auf Betriebe des Abbruchgewerbes zu erstrecken, wenn sie unmittelbar oder mittelbar Mitglied im Deutschen Abbruchverband e.V. sind.
Rz. 18
cc) Dass der Normgeber bezogen auf Betriebe des Abbruchgewerbes die Allgemeinverbindlichkeit über den gestellten Antrag hinaus für das Jahr 2005 auf solche Betriebe erweitern wollte, die nicht Verbandsmitglied sind, ist nicht anzunehmen. Dagegen spricht, dass eine Allgemeinverbindlicherklärung, die über einen gestellten Antrag hinausgeht, wegen der antragsabhängigen Ausgestaltung des Verfahrens (BVerwG 3. November 1988 – 7 C 115.86 – zu II 4a der Gründe, AP TVG § 5 Nr. 23) regelmäßig als teilnichtig angesehen wird (Löwisch/Rieble TVG 2. Aufl. § 5 Rn. 123 ff.; Däubler/Lakies TVG 2. Aufl. § 5 Rn. 157 ff.). Die Überschrift des Ersten Teils der Allgemeinverbindlicherklärung 2006 verdeutlicht, dass der Normgeber sich im Rahmen der gestellten Anträge bewegen und die Allgemeinverbindlichkeit des VTV in der Fassung vom 14. Dezember 2004 wie beantragt einschränken wollte. Hat die Beklagte im Jahr 2005 arbeitszeitlich überwiegend Abbrucharbeiten verrichtet, wurde sie somit von der Allgemeinverbindlichkeit des VTV in diesem Jahr nicht erfasst.
Rz. 19
II. Die Klage könnte aber auf der Grundlage des Vortrags der Klägerin begründet sein, dass die Beklagte im Jahr 2005 arbeitszeitlich überwiegend Durchbrucharbeiten verrichtet hat.
Rz. 20
1. Durchbrucharbeiten fallen nach § 1 Abs. 2 Abschn. V Nr. 5 (Beton- und Stahlbetonarbeiten) und Nr. 6 (Bohrarbeiten) bzw. nach den allgemeinen Merkmalen des § 1 Abs. 2 Abschn. I – III VTV unter den betrieblichen Geltungsbereich des VTV (BAG 4. Oktober 1989 – 4 AZR 319/89 – AP TVG § 1 Tarifverträge Bau: Nr. 120; 2. Februar 1994 – 10 AZR 344/93 –; 7. Juni 2000 – 10 AZR 419/99 –). Werden Öffnungen in Decken und Wände für Versorgungsleitungen, Türen oder Fenster gebohrt oder gesägt, bleiben die Decken und Wände in ihrer Substanz und Funktion erhalten. Es liegen dann keine Abbruch-, sondern Durchbrucharbeiten vor.
Rz. 21
2. Betriebe, in denen arbeitszeitlich überwiegend Durchbrucharbeiten verrichtet werden, wurden im Jahr 2005 von den Einschränkungen der Allgemeinverbindlicherklärung vom 24. Februar 2006 nicht erfasst. Nach dem Antrag auf Allgemeinverbindlicherklärung des VTV vom 20. Dezember 1999 in der Fassung des Änderungstarifvertrags vom 14. Dezember 2004 mit Wirkung vom 1. Januar 2005 sollten gemäß dem ersten Teil der Maßgaben in der Bekanntmachung über die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifvertragswerken für das Baugewerbe vom 17. Januar 2000 nur Spreng-, Abbruch- und Enttrümmerungsarbeiten ausführende Betriebe und selbständige Betriebsabteilungen von der Allgemeinverbindlicherklärung und somit keine Betriebe, die Durchbrucharbeiten verrichten, ausgenommen werden. Nach den vorstehenden Erwägungen ist der VTV idF vom 14. Dezember 2004 mit diesen Einschränkungen zum 1. Januar 2005 für allgemeinverbindlich erklärt worden.
Rz. 22
3. Die Klägerin hat die arbeitszeitlich überwiegende Erbringung von Durchbrucharbeiten im Jahr 2005 schlüssig dargelegt und unter Beweis gestellt. Das Landesarbeitsgericht hat diesbezüglich keinen Beweis erhoben. Dies wird nachzuholen sein.
Unterschriften
Mikosch, W. Mestwerdt, Reinfelder, Kay Ohl, Staedtler
Fundstellen
DB 2010, 1652 |
FA 2010, 320 |
NZA 2010, 953 |
AP 2011 |
EzA-SD 2010, 16 |