Entscheidungsstichwort (Thema)
Tarifliche Kündigungsfristen für ältere gewerbliche Arbeitnehmer
Normenkette
BGB § 622 Abs. 2; GG Art. 3; EGBGB Art. 222
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Klägers werden die Urteile des Arbeitsgerichts Köln vom 11. Mai 1994 – 3 Ca 9460/93 – und des Landesarbeitsgerichts Köln vom 11. Januar 1995 – 7 Sa 1056/94 – teilweise abgeändert:
Es wird festgestellt, daß das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung des Beklagten vom 30. September 1993 erst zum 30. April 1994 aufgelöst worden ist.
Von den Kosten des Rechtsstreit trägt der Beklagte 2/3, der Kläger 1/3.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Der Beklagte betreibt ein Hotel-Restaurant („A.”) mit rund 60 Arbeitnehmern. Der 1930 geborene Kläger war dort seit 1961 als Chef de Rang (Chef-Ober) tätig gegen eine umsatzabhängige Vergütung von zuletzt durchschnittlich 5.388,00 DM monatlich.
Im Jahr 1993 entschloß sich der Beklagte zu einem Totalumbau des historischen Betriebsgebäudes und zu einer Einstellung des Betriebes ab 1. Januar 1994 für die Dauer von voraussichtlich sechs Monaten. Aus diesem Grund kündigte er allen Mitarbeitern mit dem Zusatz, er bekenne sich ausdrücklich dazu, daß die Mitarbeiter einen Rechtsanspruch auf Weiterbeschäftigung nach der Umbaumaßnahme hätten und die Betriebs Zugehörigkeit dadurch nicht unterbrochen werde. Dem Kläger kündigte der Beklagte dementsprechend am 30. September 1993 unter Einhaltung der tariflichen Kündigungsfrist des § 4 des allgemeinverbindlichen Manteltarifvertrags für das Gaststätten- und Hotelgewerbe des Landes Nordrhein-Westfalen (MTV), gültig ab 1. Januar 1991, zum 1. Januar 1994, § 4 MTV lautet:
„§ 4
Kündigungsfristen
4.1 Das Arbeitsverhältnis mit gewerblichen Arbeitnehmern kann unter Einhaltung einer Frist von 14 Tagen beiderseits täglich gekündigt werden.
4.1.1 Nach einer
zweijährigen ununterbrochenen Tätigkeit im gleichen Betrieb oder beim gleichen Arbeitgeber beträgt diese Kündigungsfrist
1 Monat zum Ende eines jeden Monats,
4.1.2 zehnjährigen ununterbrochenen Tätigkeit im gleichen Betrieb oder beim gleichen Arbeitgeber beträgt diese Kündigungsfrist
2 Monate zum Ende eines jeden Monats,
4.1.3 fünfzehnjährigen ununterbrochenen Tätigkeit im gleichen Betrieb oder beim gleichen Arbeitgeber beträgt diese Kündigungsfrist
3 Monate zum Ende eines Kalendervierteljahres.
4.2 Die Kündigungsfrist für Angestellte im Sinne des BGB, HGB und der Gewerbeordnung beträgt
1 Monat zum Ende eines jeden Monats.
Für die in § 3.2.1 genannten Angestellten beträgt die Kündigungsfrist
6 Wochen zum Ende eines jeden Kalendervierteljahres.
4.3 Im übrigen gelten die gesetzlichen Bestimmungen über die Fristen für die Kündigung von Angestellten vom 9.7.1926 und § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB.
4.4 Nach einer Betriebs Zugehörigkeit von 10 Jahren und Vollendung des 50. Lebensjahres soll das Arbeitsverhältnis durch den Arbeitgeber nach Möglichkeit nicht mehr ordentlich gekündigt werden.”
Nach Abschluß der Umbaumaßnahmen wird der Kläger seit Juli 1994 vom Beklagten zu den bisherigen Bedingungen weiterbeschäftigt, nachdem er zwischenzeitlich teilweise einer anderen Tätigkeit nachgegangen war.
Der Kläger hält die Kündigung für unwirksam und hat geltend gemacht, derartige kurzfristige Betriebsunterbrechungen seien Ausfluß des unternehmerischen Risikos, das der Beklagte nicht auf ihn abwälzen dürfe. Der Beklagte hätte ihn auch während der Umbauphase mit anderen Arbeiten weiterbeschäftigen müssen. Jedenfalls habe die Kündigung fristgemäß erst zum 30. April 1994 erfolgen können.
Der Kläger hat zuletzt nur noch beantragt
festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis durch die ordentliche Kündigung vom 30. September 1993 – zugegangen am 30. September 1993 – nicht aufgelöst worden ist, sondern bis zum 30. April 1994 fortbestanden hat.
Der Beklagte hat zur Stützung seines Klageabweisungsantrags geltend gemacht: Der bauliche Zustand des Hotel-Restaurants habe in Verbindung mit behördlichen Auflagen eine Renovierung unumgänglich gemacht. Es habe weder die Möglichkeit bestanden, den Kläger in seinem bisherigen Aufgabenbereich zu beschäftigen, noch sei eine alternative Tätigkeit in Betracht gekommen. Die Kündigungsfrist sei ordnungsgemäß nach dem auf das Arbeitsverhältnis anwendbaren MTV berechnet worden.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Seine hiergegen gerichtete Revision hat der Kläger zuletzt auf die Rüge der Nichteinhaltung der gesetzlichen Kündigungsfrist des § 622 Abs. 2 BGB n.F. beschränkt.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist, soweit sie vom Kläger noch aufrechterhalten wird, begründet. Zu Unrecht haben die Vorinstanzen die Kündigungsfrist nach § 4.1.3 des Manteltarifvertrags für das Gaststätten- und Hotelgewerbe des Landes Nordrhein-Westfalen, gültig ab 1. Januar 1991 (MTV), berechnet und deshalb die Klage insgesamt abgewiesen.
I. Die Revision rügt zu Recht, daß der Beklagte mit seiner Kündigung die gesetzliche Kündigungsfrist des § 622 Abs. 2 Ziff. 7 BGB n.F. hätte einhalten müssen und deshalb das Arbeitsverhältnis jedenfalls nicht vor dem 30. April 1994 beendet worden ist. Es kann dahinstehen, ob § 4.3 des auf das Arbeitsverhältnis anwendbaren MTV, wonach „im übrigen” die gesetzlichen Bestimmungen des § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB gelten, als deklaratorische Verweisung auf § 622 BGB in seiner jeweils gültigen Fassung zu verstehen ist. Selbst wenn man von einer konstitutiven Regelung der verlängerten Kündigungsfristen für gewerbliche Arbeitnehmer durch den MTV ausgeht, findet auf die Kündigung § 622 BGB n.F. Anwendung. Soweit nämlich die Tarifpartner für gewerbliche Arbeitnehmer nach einer Betriebs Zugehörigkeit von 15 Jahren sowohl hinsichtlich der Zahl der Erhöhungsstufen als auch hinsichtlich der Kündigungsfristen erhebliche Verschlechterungen gegenüber den Angestellten vereinbart haben, verstößt diese Regelung jedenfalls gegen Art. 3 GG und ist durch § 622 BGB in der Fassung des KündFG zu ersetzen.
1. In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 62, 256, 285 = AP Nr. 16 zu § 622 BGB, zu B II 6 der Gründe) ist der Senat stets davon ausgegangen, daß mit zunehmender Betriebszugehörigkeit die Anforderungen an die sachlichen Gründe, die zur Rechtfertigung unterschiedlicher Kündigungsfristen für gewerbliche Arbeitnehmer und Angestellte geltend gemacht werden, ansteigen (Senatsurteil vom 29. August 1991 – 2 AZR 220/91 (A) – AP Nr. 32 zu § 622 BGB; BAGE 69, 257 = AP Nr. 37 zu § 622 BGB; Urteil vom 11. August 1994 – 2 AZR 9/94 – AP Nr. 31 zu § 1 KSchG 1969 Krankheit). Mit zunehmender Betriebs Zugehörigkeit und damit höherem Lebensalter steigt das Schutzbedürfnis der betroffenen Arbeitnehmer, und es ist entscheidend zu berücksichtigen, daß sowohl die gewerblichen Arbeitnehmer als auch die Angestellten die gleiche Betriebstreue erbracht haben, die gemessen am Maßstab des Art. 3 GG bei beiden Arbeitnehmergruppen kaum unterschiedlich bewertet werden kann. Rechtfertigt deshalb etwa das Bedürfnis nach flexibler Personalplanung eine kürzere tarifliche Grundkündigungsfrist für gewerblich tätige Arbeiter im Vergleich zu der für Angestellte günstigeren Regelung, so gilt dies nicht ohne weiteres auch für verlängerte Kündigungsfristen desselben Tarifvertrages. Die in gleichem Maße erbrachte Betriebstreue der gewerblichen Arbeitnehmer erfordert dann zumindest gleiche Stufen der Wartezeiten aufgrund abgeleisteter Betriebszugehörigkeit wie bei den Angestellten (Senatsurteil vom 11. August 1994, a.a.O., zum MTV für die gewerblichen Arbeitnehmer der nordrheinischen Textilindustrie vom 10. Mai 1978).
2. Auch wenn man die von den Tarifpartnern berücksichtigten branchenspezifischen Besonderheiten bedenkt, stellen diese keinen ausreichenden sachlichen Grund dar, der eine solch erhebliche Schlechterstellung nach längerer Betriebs Zugehörigkeit rechtfertigen würde, wie sie die Tarifpartner festgelegt haben. Nach § 4.1 MTV konnte ein gewerblicher Arbeitnehmer in 15 Beschäftigungsjahren nur drei Erhöhungsstufen und eine Kündigungsfrist von höchstens drei Monaten zum Quartalsende erreichen. Demgegenüber ergaben sich nach dem MTV für Angestellte aufgrund des in Bezug genommenen Gesetzes über die Fristen für die Kündigung von Angestellten vom 9. Juli 1926 schon bei 12 Beschäftigungsjahren vier Erhöhungsstufen nach fünf, acht, zehn und zwölf Jahren mit einer Kündigungsfrist von sechs Monaten zum Quartalsende. Dieser Unterschied in der Anzahl der Erhöhungsstufen und der Kündigungsfrist ist völlig überproportional und durch die Interessen des Arbeitgebers nicht mehr zu rechtfertigen. Den Besonderheiten des Wirtschaftszweiges hätte auch durch eine Regelung Rechnung getragen werden können, die z.B. bei gleicher Stufung der Wartezeiten und des Kündigungstermins nur hinsichtlich der Kündigungsfristen differenziert hätte (vgl. z.B. Senatsurteil vom 9. März 1995 – 2 AZR 510/94 – zum MTV Volkswagenwerk AG, n.v.).
3. Die entstandene Tariflücke ist durch die Anwendung des KündFG zu schließen. Daß dies auch dem Willen der Tarifpartner entspricht, ergibt sich daraus, daß in dem Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmer/-innen im Gaststätten- und Hotelgewerbe des Landes Nordrhein-Westfalen vom 23. März 1995 die Tarifpartner nach einer Beschäftigungszeit von 12, 15 und 20 Jahren die gesetzlichen Kündigungsfristen des KündFG von 5, 6 bzw. 7 Monaten zum Ende eines Kalendermonats gleichermaßen für Angestellte wie für gewerbliche Arbeitnehmer in den Tarifvertrag übernommen haben.
4. Dem Kläger konnte nach § 622 Abs. 2 Ziff. 7 BGB n.F. danach nur mit einer Frist von sieben Monaten zum Ende eines Kalendermonats, also zum 30. April 1994 gekündigt werden, weil er nach Vollendung seines 25. Lebensjahrs zwanzig Jahre beim Beklagten beschäftigt war. Obwohl die Kündigung am 30. September 1993, also vor Inkrafttreten des KündFG zugegangen ist, findet nach Art. 222 EGBGB auf die Kündigung § 622 BGB n.F. Anwendung, schon weil am 15. Oktober 1993 das Arbeitsverhältnis noch nicht beendet war und die neuen Kündigungsfristen für den Kläger günstiger sind.
II. Auf die Frage der Sozialwidrigkeit der Kündigung kommt es nicht mehr an, nachdem der Kläger seine Revision auf die Feststellung des Fortbestands des Arbeitsverhältnisses bis 30. April 1994 beschränkt hat.
III. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 91, 92 Abs. 1, 566, 515 Abs. 3 ZPO.
Unterschriften
Etzel, Bröhl, Fischermeier, Bächle, Röder
Fundstellen